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Der Kongress der grauen Anzüge

Kopfrechnen mit Heinz Dürr, dem Manager der Bahnpleite: In Berlin zog die erste Generation der New Economy Bilanz. Es ist vielleicht nicht alles so schlimm, wie es scheint. Sondern noch schlimmer: Die Old Economy hat am Ende Recht behalten

von VERENA DAUERER

Alle Jahre wieder, und das nun schon zum vierten Mal, hat der Kongress getanzt. Abends ein wenig, jedenfalls. Diesmal in den Kinos der Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg, dem verwestlichtsten Teil des ehemaligen Ostberlin, als Mixtur aus Kongress, Filmfest und Clubveranstaltungen und gedacht als Synthese dessen, wofür sich junge, flexible Menschen aus der Medien- und Internetbranche heutzutage begeistern: Die Mitarbeiter der New Economy diskutieren unter dem ewigen Titel für ein noch nicht ganz absturzsicheres Programm „Berlin Beta“ gern über Medienveränderungen. Sie interessieren sich wieder – und schon wieder – für hoffnungsfrohe Finanzierungsmöglichkeiten von Venture Capitalists, aber genauso für nicht weniger spekulative Stadtentwicklungen, die durch die veränderte Arbeitsstruktur des Webzeitalters wahrscheinlich unvermeidlich sind. Oder über Wege der Filmdistribution mit Hilfe desselben Internets. Abends schauen sie sich Digitalfilme an, wenn sie die nicht gleich selbst machen, und gehen danach dynamisch in den Club oder in die Lounge.

Aber da gab es doch eine Krise in den letzten zwei Jahren und ein geradezu massenhaftes dot.com-Sterben? Nach den Grabesreden der Presse muss dieser Menschentypus, der soeben noch das Vorbild einer ganzen Epoche schöner und junger Pioniere war, schon wieder ausgestorben sein. Und wenn er nicht gestorben ist, muss man vermuten, dass er eine Karriere in einem uralten Kapitalunternehmen angetreten hat. Nach einer Umfrage der Universität Witten/Herdecke haben tatsächlich vier von fünf New-Economy-Mitarbeitern und mehr als die Hälfte der Geschäftsführer von Start-ups vor, einen solchen Wechsel an sich selbst vorzunehmen. Bei den Angestellten wollen sogar knapp neunzig Prozent in die Old Economy zurück, bei den Chefs sind es sechzig Prozent.

Doch tief vor Gram gebeugt und unzufrieden schlurfen die dot.commies nicht zu den Konferenzen in die Kinosäle, um dort verbittert in den lilafarbenen Sesseln zu versinken. Popcorn und Entertainment sind nicht angesagt, sondern es gilt, eine ernste Miene zu machen. Eher ernüchtert und wieder erdverbunden – „Reality Shift“ heißt nicht umsonst ein Vortrag – wirkt ein Großteil der 700 am Kongress in Berlin Teilnehmenden. Sie alle haben gemerkt, dass sie beim Business mit der Old Economy seriös auftreten müssen.

Deshalb ist die Beta-Version 2001 weder eine Modestrecke für trendy 80er-Klamotten geworden noch eine Ansammlung von Nerds in vernachlässigten Schlabberhosen und verwaschenen T-Shirts. Wir sind ja nicht beim Berliner Kongress der „Wizards of Os“, der bald kommen wird, oder den „Linuxtagen“, die schon vorbei sind. Wir sind mittendrin und haben das Problem, das die Prediger der Geschenkökonomie und der Freiheit komplett unverständlicher Programmcodes hier wie dort weder begreifen noch lösen wollen. Auch mit Linux wäre das passiert: Wir brauchen Geld.

Schuld sind die anderen

Die New Economy samt ihrem kulturellen Anhang trägt diesen Spätsommer Anzüge in Dunkelgrau. Vielleicht demonstrativ als klassische Trauerkleidung, denn auf der Diskussion über die „Old“ und die „New“ Economy beklagen sie immer noch die überzogenen Ansprüche und Luftikus-Erwartungen der dahingeschiedenen Start-ups.

Der Hype jedenfalls ist lange vorbei, und die Neugründer haben inzwischen die „Grundrechenarten“, den „Dreisatz“ und das „Einnahmenmachen“ gelernt. Das doziert ihnen so smart, wie sie mal selber waren, ausgerechnet der Schwabe Heinz Dürr vor, der die Bundesbahn in die Pleite fuhr, in der sie freilich ohnehin steckte, und bei Daimler-Benz im Vorstand saß, als das Unternehmen nur viel zu groß statt global war. Ein klassischer Vertreter der Old Economy mithin. Oberlehrerhaft liest er Paulus Neef die Leviten. Der hat als Mitbegründer des gebeutelten Multimediaunternehmens Pixelpark zu kämpfen, aber der Bertelsmann, der dreiviertel Anteile seiner Firma besitzt, hat ihn noch nicht verlassen. Immer waren die Analysten an den falschen Strategien Schuld gewesen, sagen Neef und Dürr gemeinsam. Die hätten so lange das Blaue vom Himmel versprochen, bis die Finanzwelt es geglaubt habe. Und dort habe dann niemand eine Ahnung von den kläglichen Gewinnspannen im Internet gehabt.

Wusste Neef das besser? Der Sonnyboy jedenfalls ist Heinz Dürr, der Entertainer, der sich als einziger getraut hat, einen hellen Leinenanzug zu tragen. Sandfarben sitzt er unter lauter grauen Mäusen. Nur Moderator Sebastian Peichel hat sich mit einem Braunton angetan in die Runde wagt: dunkel, aber nicht ganz grau. Sollte das ein Zeichen für die baldige Erholung des Marktes sein?

Glaubt man einer Untersuchung der European Business School, sind nur knapp acht Prozent der Start-ups gescheitert. Alles ist nicht so dramatisch wie ausgemalt, bis Mitte 2002 soll schon die zweite E-Business-Welle auf Deutschland zurollen. Sagen die Analysten. Während letztes Jahr in Europa insgesamt 11 Millionen Euro in Internetfirmen investiert wurden, sollen es laut einer Prognose von Tornado-Insider.com dieses Jahr satte 18 Millionen werden.

Ein sicherlich wirksames Trostpflästerchen ist außerdem, dass die IT-Branche hierzulande so schlecht gar nicht dasteht. Es gibt mehr Unternehmen als in Frankreich, Spanien und Italien. Zusätzlich haben hier mehr Leute Handys als in den USA, dem Land der New Economy Nummer eins.

Wir kommen wieder

Das ist doch was. Nächstes Jahr werden uns vielleicht wieder mal neue Entwicklungen aus den USA erfreuen. Einen Ausblick auf dem Kongress bietet Florian Peter von CScout aus New York. Demnach soll der letzte heiße Scheiß V-Mail sein, kurz für Video-Mail. Das ist die Wiederauflage der Bildtelefone, die sich bekanntlich nie durchgesetzt haben. Aber gestern Abend kam wieder die Mysteryserie „Pretender“ im Fernsehen, und siehe da, der Schurke wurde doch tatsächlich anhand einer V-Mail überführt. Also sagen wir, V-Mail ist ein relativ neuer Trend, die Staffel war aus den Jahren 1996 bis 2000.

Beinah angestaubt, fast wie der angegraute Wired-Gründer Louis Rosetto. Er gibt Anekdoten aus den goldenen Gründertagen zum Besten, und man lauscht andächtig. Fehlt nur der Ohrensessel. Vor zehn Jahren waren die meisten Anwesenden vielleicht noch Teenager, und reine Nostalgie kommt auf, als die alten Mythen durch den Saal raunen, wie sich die Wired-Recken der ersten Stunde mit langsamen Druckern herumschlagen mussten und ein ganzes Wochenende für die Printausgabe draufging.

Bei so viel Verklärung bleibt die Flucht auf das Filmfest übrig und das Anschauen gewalttätiger japanischer Digitalfilme. Hier heißt das Zauberwort „DV“. Haufenweise kommen sie aus der ganzen Welt, und es werden immer mehr, bescheinigt Filmemacher Ulli M. Schüppel auf dem Panel über digitale Unabhängigkeit. Bei Festivals seien mittlerweile fünf von fünfzehn eingesendeten Beiträgen im DV-Format gedreht. Die Berlin Beta hat extra eine eigene Reihe eingerichtet, man endet aber doch beim normalen Film: bei einem Lehrgang über das Scratchen und bei Goldie und wie er seine Musik macht, digital natürlich.

Vdauerer@t-online.de

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