: Der schnelle Schuss
Im ostsibirischen Chabarowsk geht die Polizei gemeinsam mit dem örtlichen Fernsehsender auf Jagd nach Drogenabhängigen. „Aufklärung per Abschreckung“ wird die demütigende Zurschaustellung der Suchtkranken genannt
von SABINE ADLER (Text) und CHRISTEL BECKER-RAU (Fotos)
Die Flucht aus dem Alltag ist billig. Efidron, eine an sich harmlose Aufputschpille, die Drogenhändler aus China nach Russland schmuggeln, kostet weniger als eine Schachtel Streichhölzer. Doch die Abhängigen, die sich das aufgelöste Mittel spritzen, brauchen nicht nur eine Pille am Tag, sie brauchen eine Packung für dreißig bis vierzig Rubel am Tag, manche geben auch hundert Rubel aus, rund zehn Mark.
Efidron ist in China frei verkäuflich, in Russland aber seit Jahren verboten. Eine halbe Tonne Tabletten beschlagnahmt die Chabarowsker Polizei jedes Jahr. Zu wenig, um den Süchtigen weitab von Moskau den schnellen Kick zu verwehren. Der kann schon nach kurzer Zeit tödlich enden, zweihundert Menschen sterben pro Jahr in Chabarowsk an Drogensucht.
Alexander Beskorowaini ist Ermittler im 1993 eingerichteten Drogendezernat der Chabarowsker Polizei. Er kennt die meisten Abhängigen persönlich, die Jüngsten seien sechsjährige Kinder, berichtet er. Beskorowaini hat beobachtet, wie sich Efidronsüchtige innerhalb eines Monats völlig verändern. In immer kürzeren Abständen fordere ihr Körper die Droge. „Efidron zerstört die Psyche, das Hirn, die Koordinations- und Handlungsfähigkeit“, sagt der Polizist. „Bei Männern dauert es länger, zwei, drei Monate, bei Frauen genügt oft ein Monat. Sie können nicht mehr arbeiten, müssen sich jede Stunde spritzen. Im Grunde müsste man neben die Werkbank ein Sofa stellen.“
Viele der früher Opiumabhängigen, sagt der Drogenfahnder, seien auf das billige Aufputschmittel umgestiegen. Efidronabhängige seien insgesamt unberechenbar. Betrunkene könne man leicht erkennen, Drogenabhängige dagegen seien gefährlich, da sie sich weit weniger auffällig verhielten.
Entsprechend gnadenlos geht die russische Polizei gegen die Süchtigen vor – gemeinsam mit den Medien. Einmal pro Woche benachrichtigt der Drogenfahnder die Reporter des populärsten kommerziellen Fernsehsenders Set, zusammen begeben sie sich dann abends auf Razzia. Im Sturm nehmen Milizionäre, Kameramann und Reporter die so genannten Drogennester. Scheinwerfer an, Kamera läuft.
Drogensüchtige haben kein Recht auf Datenschutz. Im Gegenteil. Galina O., eine knapp fünfzigjährige Frau, wird ins Bild geschoben. „Galja, sag der Jugend, den Fernsehzuschauern, warum man keine Drogen nehmen soll!“, fordert der zwanzig Jahre jüngere Polizist in väterlichem Ton von der eingeschüchterten, benebelten Frau im Bademantel. Die stammelt pflichtgemäß zwei Sätze herunter: Man nehme besser keine Drogen, das führe zu nichts und einen Ausweg finde man auch nicht mehr, wenn man einmal abhängig geworden sei.
Galina hat Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Aber sie erzählt. Dass sie in einer Möbelfabrik arbeitet, dass sie schon seit 1972 drogenabhängig ist. Mit einer Unterbrechung: Als ihr Mann im Gefängnis saß, hat sie acht Jahre lang darauf verzichtet. Die Drogen seien heute härter als früher, zerstörerischer. Wenn sie sich morgens und abends nicht spritzen würde, schmerze ihr ganzer Körper, die Leber tue weh. Siebzig Rubel brauche sie am Tag für ihre Sucht. Von der ständigen Sorge um das Geld für den Stoff habe sie endgültig genug. Doch von einer Therapie, die man nur bekomme, wenn man sie selbst finanziere, könne sie nur träumen.
Wenn dem Polizisten keine Fragen mehr einfallen, kommt die Reporterin zu Hilfe. Sie kennt auch die Freunde von Galina, zwei unscheinbare Männer Anfang zwanzig, die sich in eine Sofaecke drücken. „Das sind Taschendiebe“, erklärt die Fernsehjournalistin. „Man erkennt sie daran, dass man sich ihre Gesichter nicht merken kann. Man schaut sie an und hat doch schon im nächsten Moment vergessen, wie sie aussehen. Aber wir kennen unsere Pappenheimer. Du bist doch ein Taschendieb?!“ – „Kein Dieb, Lastenträger, Träger auf dem Markt . . .“ Ehe der junge Mann den Satz beenden kann, reißt ihm der Drogenfahnder den Arm herum, zerrt auch ihn vor das Objektiv, um die Einstichstellen jedermann zu präsentieren. Der Kameramann ist zufrieden, nickt. Scheinwerfer aus, Razzia beendet, Ortswechsel.
Der schrottreife blauweiße Mannschaftswagen holpert in ein anderes Stadtviertel. Während der Fahrt erzählt Chefermittler Alexander Beskorowaini, dass sie Galina nie festnehmen. Sie handle nicht mit Drogen, man habe sie auch noch nie beim Kauf überraschen können. Sie erlebten sie zwar ständig berauscht, doch das sei noch nicht strafbar. „Wir halten sie unter Kontrolle, aber im Grunde ist sie harmlos.“ Das Polizeiauto parkt ein Stück entfernt von den verdächtigen Wohnungen, die Beamten samt Kamerateam pirschen sich heran; zweimal Fehlanzeige.
Bei der dritten Adresse werden die Fahnder fündig. Wieder fliegt die Eingangstür auf, Miliz und Fernsehleute poltern in ein verwahrlostes, düsteres Holzhäuschen. Es riecht faulig, die Wände sind rußgeschwärzt, schwache nackte Glühlampen halten den einzigen Raum in Halbdunkel. Ein kleines Kind fängt an zu schreien, die Mutter lümmelt schläfrig auf dem Bett, das den halben Raum einnimmt. Ihr älterer Sohn schafft es nicht mehr, die Spritzutensilien verschwinden zu lassen. Kamera auf ihn, Spritze, Kocher, Arm, Einstiche, dann ist die Mutter dran.
Die blonde Frau wehrt sich lautstark gegen die Filmaufnahmen, die das Team nicht zum ersten Mal von ihr macht. Doch ihr Protest wird überhört, ebenso wie ihre Aufforderung an die Beamten, ihre Ausweise vorzuzeigen. Das Rauschgift haben sie offenbar vorher versteckt, die Milizionäre suchen danach, werden aber nicht fündig, eine telegene Festnahme gibt es wieder nicht. Die Kleine schreit immer noch. Ihr Gesicht ist verschmiert. Sie macht einen verwahrlosten Eindruck. Bald soll das Kind in ein Heim kommen.
Als Efidron 1994 zum ersten Mal in der Szene auftauchte, verbreitete es sich mit rasanter Geschwindigkeit. Rund achthundert Dealer bringen die Pillen unter die Süchtigen der Stadt, über dreitausend Straftaten – Beschaffungskriminalität, Drogenhandel, Drogenmissbrauch – registriert die Miliz pro Jahr.
Niemand hilft den Abhängigen, einen Ausweg zu finden, sich loszureißen von ihrer Sucht. Die Menschen in Chabarawosk betrachten Drogenabhängige als Kriminelle, die ins Gefängnis gehören. Kaum jemand empfindet Mitleid oder fühlt sich gar zur Fürsorge aufgefordert. Hilfsorganisationen, die in Russlands Westen schon seit Jahren wertvolle Unterstützung für Drogenabhängige anbieten, sind bis hierher nicht vorgedrungen.
Auch die Fernsehreporterin wird später in der Dreiminutenreportage nur den Ist-Zustand zeigen, ohne irgendeinen Vorschlag zur Abhilfe zu unterbreiten. Sie hat die Frage nach dem Warum weder gestellt, noch wird sie etwas dazu sagen, weshalb die vorgeführten Abhängigen in diese ausweglose Situation geraten sind. Sie setze auf Aufklärung per Abschreckung, sagt sie, das sei noch immer am wirkungsvollsten. Auch wenn das Material heute keine zehn Minuten für eine Sondersendung hergibt, füllt es das tägliche „Kriminaltagebuch“ in den Abendnachrichten doch allemal.
Drogenfahnder und Kamerateam sind mit dem Einsatz zufrieden. Alles ist glatt gegangen, keine brenzligen Situationen für die Milizionäre, kein Schusswechsel, keine bissigen Hunde, die mitunter auf die Fahnder gehetzt werden. Für dieses Risiko bekommen die rund hundert Beamten im Drogendezernat keinen Rubel mehr als die Kollegen am Schreibtisch. Hilfe erwarten sie von einer Telefonhotline, die das Dezernat eingerichtet hat. Nützliche Tipps aus der Drogenszene, auch anonyme, werden bezahlt. Das Denunziantentum hat Tradition und wird seit Stalins Terror je nach Bedarf aktiviert. Mitunter bitten Angehörige, einen Drogenabhängigen in der Familie aus dem Teufelskreis herauszuholen.
Alexander Beskorowaini hat seinen Enthusiasmus noch nicht verloren. Seine Mitarbeiter, von ihm persönlich ausgewählt, seien überdurchschnittlich engagiert, obwohl sie ihren Dienst größtenteils nachts schieben. „Erfolgreich“, sagt er, „ist unsere Arbeit dann, wenn irgendwann einmal weniger Menschen durch Drogen sterben.“
SABINE ADLER, 38, ist Russlandkorrespondentin des Deutschlandfunks
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