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modernes antiquariatHans Webers Roman „Einzug ins Paradies“ zeigt das wirkliche Leben in der DDR

Gott im Plattenbau

Gott lebt in einem Plattenbau irgendwo in Berlin. Sitzt still auf seinem Balkon, trägt einen Morgenmantel mit Elefanten, die Kopf stehen. Doch Götter wohnen keinesfalls in Neubaublocks. Das wissen Erwachsene, Kinder aber nicht. Deshalb glaubt die 10-jährige Katrin an ihren Gott. Wie Oma, mit der sie sich ein Zimmer teilt. Nur ihre Eltern halten davon nichts. Denn sie sind Sozialisten aus Überzeugung. Ist die Familie doch gerade von einer Bruchbude mit Außenklo und ohne fließend Wasser ins sprichwörtliche Paradies gezogen. Eine Neubauwohnung.

Dank der SED und ihrem Wohnungsbauprogramm. Die Siedlung heißt „Waldeinsamkeit“, weil hier früher Wald und Einsamkeit zu finden waren. Und ein Ausflugslokal. Doch das ist längst platt gemacht. Für Tausende Plattenbauten. Für ein wachsendes Berlin, Hauptstadt der DDR. „Einzug ins Paradies“ spielt wahrscheinlich in Hellersdorf, das gerade wuchs, als Hans Weber seinen Roman schrieb. 1979 erstmals erschienen, entwickelte er sich zu einem mehrmals aufgelegten Verkaufsschlager, wurde vom Fernsehen verfilmt. Nach der Wende kam es zu keiner Neuauflage.

Schade, denn wer wissen will, wie normaler DDR-Alltag aussah, wird von Webers Geschichten um fünf Familien bestens bedient. Alle ziehen am gleichen Tag in die jeweils oberste Etage des Plattenbaus ein. Die kleine Katrin entdeckt als Erste, dass die Bauarbeiter vergaßen, Löcher in den Trennwänden der Balkons zu schließen. So klettert sie von Familie zu Familie, beobachtet die Nachbarn, die ihrem Beispiel bald folgen, und trifft auf Gott. Der ist ohne Familie, hat gerade seinen Job gekündigt und überlegt. Denn immer bestimmte die Partei, wo es in seinem Leben langging. Das kostete die Familie, den Spaß am Leben. Jetzt wohnt er bei seinem Bruder. Der hat ehrgeizige Frau und Kind. Und ein Geheimnis: Der wieder aufgetauchte Erstgeborene, einst begabter Schwimmer und Musterschüler, auf die schiefe Bahn geraten und im Jugendknast gelandet.

„Einzug ins Paradies“ erzählt an die Schöpfungsgeschichte angelehnt die sieben ersten Tage im neuen Heim. Da ist der Anpassungskünstler, für die Versorgung halb (Ost-)Berlins zuständig ist, der seinen steten Ärger mit dem Chef herunterschluckt und am Herzen erkrankt. Da ist der Regisseur, der sein eigenes Leben inszeniert. Die wirklich emanzipierte Frau, ein fleißiger Brotfahrer, eine gläubige Großmutter, pubertierende Jugendliche und eben jener Jonas, der kein Gott ist. Stoff für über 400 Seiten pralles, „wirkliches Leben“, wie ein Kapitel überschrieben ist. Es wird gestritten, geliebt, gesoffen, gevögelt, geklaut – halt gelebt. Der Blick hinter die Wände bot die für DDR-Verhältnisse unerhörte Sicht, dass der Mensch trotz Sozialismus ein individualistisches Wesen ist, das auch mal aus der Reihe tanzen und „aussteigen“ darf. Dürfen sollte. „Die Eltern liebten ihn nicht, sie liebten nur sich. Keiner hat je zu ihm gesagt: wohin willst du gehen?“, sagt Jonas über den verlorenen Sohn der Familie. Das jedoch war damals eine „gegnerische These“. Von wegen die „ungestörte Entfaltung des Individuums von innen heraus fordern“, wie ein Parteisoldat erwidert.

Hans Webers Roman aber war ein Plädoyer für Individualität, die die DDR ihren Bürgern abgesprochen hatte. Für den Deutschaufsatz bei den Abschlussprüfungen wählte ich 1983 das freie Thema und schrieb über „Einzug ins Paradies“ und bekam eine Eins. Meine Deutschlehrerin erzählte, dass andere wertende Lehrer Schwierigkeiten mit meiner Wahl hatten und mir deshalb eine Zwei oder Drei für den Inhalt hätten geben wollen. Ihnen war das Buch nicht sozialistisch genug. ANDREAS HERGETH

Hans Weber: „Einzug ins Paradies“. Verlag Neues Leben Berlin, 432 S., damals 10,80 DDR-Mark, heute vergriffen

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