: „Schalt mal ein!“
Raketen, Fiktionen, dann SMS und RTL: Einen Tag lang schaute die Welt fassungslos und wie betäubt auf die Bilder vom Unglück in New York
von FALKO HENNIG
Ich arbeite gerade an den Korrekturen für meinen Roman. Mein Lektor hat an den Rand geschrieben: „SEHR heikel! Immerhin eine Person, die möglicherweise Erben hat.“ Thema meines Romans ist der Raketen-Nazi Wernher von Braun, den ich in der Ich-Form sprechen lasse: „Ich bin froh, dass bei den ganzen Verleumdungen, die hier von bestimmten Liberalen publiziert wurden, die zweistufige Rakete für den Beschuss der Vereinigten Staaten keine Rolle spielte. Die taten ja immer so, als wäre ich selber ein KZ-Mörder gewesen. Dass die Häftlinge ja durch mich gerettet wurden, dass sie durch den Einsatz in den Raketenfabriken ja überhaupt erst eine Chance bekamen zu überleben, das hat keiner von denen gesehen. Es ist ja so ein gewisses Ostküsten-Establishment. So wie Gustav Gründgens ja auch nur mit Undank vergolten wurde, dass er persönlich Juden gerettet hat. Und was diese Ostküsten-Linken daraus gemacht hätten, dass wir auch an der Konstruktion einer Rakete arbeiteten, die sie selber wirklich getroffen hätte, das wage ich mir gar nicht vorzustellen. Zum Glück hat ihnen von diesen Details niemand was gesteckt. Ziel bei der Planung war Manhattan. Technisch gesehen war die Amerikarakete, Projektbezeichnung ‚Wasserfall‘, eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Eine A9-Rakete sollte dafür in den Bug einer A10-Rakete eingesetzt werden. Die 100 Tonnen Schub der A10 hätten wir allerdings noch auf 180 Tonnen erhöhen müssen, und dann hätte die Rakete nach einem Überschall-Gleitflug die Städte der Ostküste treffen können. Kein Wunder, dass ich bei diesen Pressekampagnen gegen mich mir in schwachen Momenten wünsche, wir wären mit dieser Konstruktion besser vorangekommen“
Ich weiß nicht, ob mir da jemand am Zeug wird flicken können. Die Fakten als solche stimmen, sie stammen aus dem Buch „Die Rakete und das Reich“ von Michael J. Neufeld, das 1999 im Henschel Verlag erschienen ist. Am Ende ist es ja immer noch ein Roman.
Um 14 Uhr bin ich mit dem Comic-Zeichner und Musiker Phil verabredet. Ich will ihn zum Thema „erfolgreiche Punks“ interviewen. Als er hört, dass der Text für Die Welt ist, muss er ablehnen, wenigstens fürs potenzielle Feature kann ich ihn befragen. Das Café Maurer ist noch zu, wir gehen ins Gorgiel in der Zionskirchstraße. Phil erzählt jede Menge Schnurren zum Thema: Wenn alle Punks sind, bedeutet Punk, kein Punk zu sein.
Dann weist uns ein Mann aufgeregt auf seine gerade zugeschickte SMS hin: „Zwei Flugzeuge sind ins World Trade Center gestürzt, Bush hat gesagt, wenn das der Islam war, wird er Vergeltung üben.“ Im Radio bringen sie nichts, trotzdem will Phil es gleich in seinen Comic einbauen.
Scheinen keine Flugzeuge, sondern Enten gewesen zu sein. Aber es stimmt. 15.25 Uhr kam die SMS, um 15.40 Uhr die „Tagesschau“ mit einer Sondersendung. Weißes Haus evakuiert, Pentagon getroffen, vermutlich Verkehrsmaschinen entführt. Wickert kämpft sich durch widersprechende Meldungen. Ein Turm des World Trade Centers bricht in sich zusammen. Von Brauns Traum der Bombardierung Manhattans hat sich erfüllt. 16 Uhr Anruf von Mario Weber. Er ist wütend und erschüttert. Ich muss die Kinder abholen.
Fahradfahrt zur Kita, später höre ich in der Kaufhalle von einer Frau am Handy: „Der zweite Tower zusammengebrochen.“ An der Kasse eine andere Frau, ebenfalls am Handy: „Flughäfen sind sowieso alle dicht. Olli wollte übermorgen nach Bolivien, das kann er auch vergessen.“
Zu Hause mache ich gleich den Fernseher an. Auf dem Anrufbeantworter Ina, ob ich schon Nachrichten gesehen habe, „wenn nicht, schalt mal ein“.
Im Fernsehen inzwischen die Kommentare der Politiker. Ich rufe Freunde in Amerika an, alle Nummern besetzt. Alex von Transitions, der wegen einem Filmvortrag von mir anruft, bringt es auf den Punkt: „Pearl Harbor war nichts dagegen.“ Erinnerungen an Moskau, der Fernsehturm, letztes Jahr.
Mario Weber sagt, RTL hätte es schon viel früher gebracht, er hat es beim Videogucken zufällig bemerkt. Pro 7 hat seine unsägliche Talkshow zu Ende gesendet. Beim Abendbrot die „Tagesschau“: Heute beginne eine neue Zeitrechnung, ein Wendepunkt der Weltgeschichte. Kann man das weniger als 6 Stunden danach schon sagen?
„Eine andere Maschine, die Kurs auf Washington genommen hatte, ist aus der Nachrichtenlage verschwunden.“ So kann man Nichtwissen auch formulieren. Die privaten Sender wissen nach 21 Uhr schon von der Täterschaft Bin Ladens (klingt mir immer wie der Abwesenheitshinweis eines Kohlenhändlers: „Bin laden!“), die Öffentlichen nicht.
Im Fernsehen ein arroganter Experte, der über die Unwissenheit der Moderatorin lachen muss. In einer Woche wird es vermutlich raus sein, wie alles zusammenhängt. Die Hintergründe gibt’s dann in 20 Jahren. Oder nie. Kurz nach Mitternacht dann Anschläge auf Kabul.
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