: Schlimme Bilder, schlimm
Bin ich vier Jahre alt? Brauche ich Leute, die mir sagen, was ich zu empfinden habe?
Das Telefon klingelte. Es war Dienstag, der 11. September 2001. Ich nahm ab und sagte: „Bitte legen Sie nicht auf. Der Verteidigungsminister wird gehalten . . . Bitte legen Sie nicht auf. Der Verteidigungsminister wird gehalten . . .“ Vom anderen Ende der Leitung kam ein aufgeregtes: „Hast du schon gesehen? Hast du schon gesehen? Das World Trade Center ist zusammengekracht!“ Dann wurde das Bild haarklein erzählt. Ich schaltete das Radio ein, immer wieder läuteten die Telefone, immer wieder wurde dasselbe Bild erzählt. „Und? Wer war’s?“, fragte ich, bekam aber keine Antwort. Dabei war die Sache ziemlich klar: Rudolf Scharping hatte die USA angreifen lassen, um von seiner lausigen Affäre abzulenken.
In dieser schweren Stunde tat ich, was von mir verlangt wurde. Ich fand mich vor dem Volksempfänger ein. So viele Kanäle, und alle gleichgeschaltet, noch gleicher sogar als normalerweise. Eine ganze Branche zeigte, was alles nicht in ihr steckt. Es gab keine Information, niemand sagte, was geschehen war, aber alle distanzierten sich auf das Schärfste – also ob es jemanden gäbe, der unseren Medienflaschen zutrauen oder unterstellen würde, sie empfänden irgendetwas, und sei es nur klammheimlich. Man sah jubelnde Palästinenser. „Schlimme Bilder!“, ächzte die n-tv-Kommentatorin. Bin ich vier Jahre alt? Brauche ich Leute, die mir sagen, was ich zu empfinden habe – wo es doch ihre Arbeit wäre, mir zu zeigen, was geschieht. Die einzige Ware, die sie zu verkaufen haben, ist Nicht-Information und Moral von der Stange. Damit bombardieren sie ihre Kundschaft; die letzte verbliebene journalistische Disziplin ist das Absondern von Abscheu auf Knopfdruck.
Es war – nach Talkshows mit Alfred Biolek und Michel Friedman – das Langweiligste, Dümmste, Distanzloseste und Penetranteste, das ich je im Fernsehen sah. Als wollten sie Terroristenpropaganda machen, zeigten sie immer wieder das Bild, von dem die Attentäter möchten, dass es in alle Köpfe eingebrannt wird: Das World Trade Center stürzt zusammen. Nachrichten gibt es keine, dafür jede Menge Individualpsychopathologie: Edmund Stoiber möchte Bundeskanzler werden und gibt deshalb eine Erklärung ab; Gerhard Schröder möchte Bundeskanzler bleiben und gibt deshalb eine Erklärung ab. Ulrich Deppendorf setzt seinen Nachnamen ins Recht und interviewt Angela Merkel, weil die auch nichts weiß: Sie sei „ein Stück weit fassungslos“, behauptet die CDU-Frau. Für einen Moment scheint der glitschige Björn Engholm zurückgekehrt, der bis heute gut vom Copyright auf „ein Stück weit“ lebt. Aber mediale Idiotie geht auch ohne Engholm. „Ein Stück weit fassungslos“: Blech wird in den Rang einer Nachricht erhoben. Die Volksempfängersorte Mensch ist artistisch und autistisch zugleich von etwas betroffen, von dem sie nicht einmal weiß, was es ist.
Wer immer da zielte, er zielte ziemlich gut. Man weiß, dass es einen Volltreffer gab, sonst nichts, und dass es sehr wahrscheinlich Rudolf Scharping war. Ein Volk, dass diese Kriegsgewinnlerexistenz nicht konsequent zu entmutigen weiß, wälzt sich entsprechend im Aspik moralischer Kommentare, in Lichterketten, in „fraktionsübergreifender Solidarität“ und anderem Gratisquabbel. Nur Premiere machte alles richtig und blendete während der Übertragung des Fußballspiels zwischen Kiew und Dortmund einen großartigen Satz ein: „Wegen der Terroranschläge in den USA verzichtet Premiere World auf einen Kommentar der Uefa-Champions-League-Spiele.“ Der Werbeträger Marcel Reif musste den Schnabel halten. Es war eine Wohltat – die allerdings doch auch ohne terroristischen Großeinsatz zu haben sein sollte, oder? WIGLAF DROSTE
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen