ZUWANDERUNG: HUMANITÄT IST AUCH NACH DEN ANSCHLÄGEN NÖTIG: Politik nach der Panik
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Andrea Nahles hat es auf den Punkt gebracht: „Wir sind Gefangene der Situation“, sagte die frühere Juso-Chefin über die Bredouille linker Politiker nach den Terroranschlägen in den USA. Flügelstreit und Abweichlertum scheinen im Moment nicht opportun. Trotz des Misstrauens in die Bush-Regierung und der Angst vor brutalen Gegenschlägen folgt die SPD dem Kanzler und seiner „uneingeschränkten Solidarität mit den USA“. Auch die Grünen scharen sich erst einmal still hinter ihrem bündnistreuen Außenminister. Ob diese Ruhe richtig ist und ob sie sich durchhalten lässt, ist mehr als zweifelhaft. Auf keinen Fall darf sich Rot-Grün aber auch noch über das unmittelbare Krisenmanagement hinaus zu Gefangenen der aktuellen Panik machen lassen. Das gilt für die reflexartig geforderten Verschärfungen bei der inneren Sicherheit, aber auch für die Entscheidungen in der Zuwanderungspolitik.
Schon vor der Krise versuchte Innenminister Schily, ein Zuwanderungsgesetz durchzusetzen, das vor allem der Union gefällt. Nicht nur Menschenrechtler, auch die Kirchen und die Grünen warnten vor inhumanen Regelungen für Flüchtlinge. Das war richtig und an den Argumenten hat sich nichts geändert. Nur die Stimmung ist jetzt eine ganz andere. Nach den Berichten über islamistische Terroristen in Deutschland treten die ohnehin vorhandenen Ressentiments offen zutage. Muslime jeglicher Herkunft werden beschimpft, Bayerns Innenminister Beckstein hetzt gegen „Menschen aus der arabischen Welt“ und fordert eine Überprüfung aller Zuwanderer durch den Verfassungsschutz. Ohne jeden Skrupel nutzt die Union die Gunst der Stunde.
Für rot-grüne Schily-Kritiker wird die Lage damit nicht einfacher. Doch nichts wäre falscher, als dem Druck jetzt nachzugeben und ein schlechtes Gesetz zu unterschreiben. Vielleicht ist die Hoffnung auf bessere Zeiten naiv. Aber wenn sich die erste Panik gelegt hat, könnte sich die Vernunft doch noch durchsetzen: Zu allem bereite Terroristen werden immer Wege finden, noch so strenge Gesetze zu umgehen. Eine Politik der Abschottung und Diskrimierung führt nur dazu, dass sie Unterstützung bekommen. LUKAS WALLRAFF
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