: Ein Schattengefecht oder Osman im Laden
Der Terror gegen New York hat in den Medien eine nicht abreißende Kette von Erklärungsversuchen und Analysen in Gang gesetzt. Manche Menschen sind trotzdem immer noch verwirrt und ringen mit sich selbst und anderen um Verständnis. Ein Streitgespräch in einem orientalischen Haushalt
von OSMAN ENGIN
„Die Welt wird nicht mehr so sein, wie sie vor dem 11. September mal war“, sagen amerikanische Politiker. Die türkischen Generäle haben das auch immer gesagt, als die das letzte Mal geputscht hatten. Nur meinten die damit den 12. September. Mein linksradikaler Sohn Mehmet erzählt mir seit Jahren, dass wir diesen unseligen Militärputsch nur den amerikanischen Kapitalisten zu verdanken haben. Wie auch fast jeden Militärputsch und sämtliche Kriege im Rest der Welt, insbesondere in Südamerika, Afrika und Asien. Aber in Zukunft werde ich dafür sorgen, dass dieser Terrorist seine Hetzparolen nicht mehr so frei durch die Gegend schleudern kann. Es ist nämlich nichts mehr so wie vor dem 11. September! „Jetzt sind wir alle Amerikaner.“ Ob die Amis das wollen oder nicht! Natürlich versuchen sie, der ganzen Welt ihre Kultur zu vermitteln, aber ob sie wirklich daran interessiert sind, dass jeder Hans und Franz einen amerikanischen Pass bekommt, das ist eine andere Frage. Mich wollen die jedenfalls nicht, denn seit Jahren versuche ich erfolglos, eine Green Card zu bekommen.
„Wieso hat denn keiner ‚Wir sind alle Iraker‘ gerufen, als im Golfkrieg eine Million unschuldige Frauen und Kinder starben?“, höre ich bereits meinen Sohn Mehmet tönen. „Ich schließe mich im Schlafzimmer ein, um mich ungestört auf Mehmets hinterhältige Argumente vorzubereiten. Aber diesmal werden er und seine terroristischen Freunde kein Loch mehr finden, um sich moralisch zu verstecken. Denn diesmal habe ich endgültig die besseren Argumente. Er muss froh sein, dass ich ihn noch nicht bei den Rasterfahndern vom BKA verpetzt habe! Ich weiß nämlich nicht mal, was er überhaupt studiert! Seine Schwester Nermin behauptet zwar, dass er Landwirtschaft und Theologie studiere, um Schweinepriester zu werden, aber es ist auch möglich, dass er Flugzeugtechnik studiert. Erschwerend kommt hinzu, dass er in Hamburg geboren wurde. Und sein Lieblingsfilm ist „Stirb langsam“, Teil 1. Und außerdem ist er ein gnadenloser Schläfer, vor denen ja überall gewarnt wird. Jeden Tag schläft er mindestens bis 12 Uhr mittags, das sagt ja wohl alles!
„Nein, nein, nein, so einfach, wie es sich der Cowboy aus den USA macht, ist es nicht“, wird Mehmet sagen, „in solchen Fällen möchte ich erst mal handfeste Beweise sehen, die vor Gericht Bestand haben. Bis dahin können wir nur spekulieren, wem ein solches Attentat nutzt.“
„Was willst du Wichtigtuer denn herausfinden?! Der Fall ist doch diesmal sonnenklar!“
„Also bis jetzt ist doch nur der Fall der Türme sonnenklar, sonst gar nichts.Und selbst das kommt mir, nachdem ich die Bilder im Fernsehen von allen Seiten tausendmal gesehen habe, völlig unwirklich vor.“
Ich kenne meinen kommunistischen Sohn Mehmet so gut, dass ich mit ihm sogar diskutieren kann, selbst wenn er gar nicht da ist. Ich sehe ihn förmlich vor mir, wie er bedächtig seinen Kopf schüttelt und sagt: „Ich kapiere überhaupt nicht, wie der amerikanische Präsident so unschuldig wie ein neugeborenes Baby tun kann, als wüsste er nicht, dass es auf der gesamten Welt kein Fleckchen Erde gibt, auf das die Weltpolizei noch keine Bomben geschmissen hat. Auf Japan sogar zwei Atombomben auf einmal! Und inzwischen haben die so viele Massenvernichtungswaffen gebaut, dass es auf der ganzen Welt keinen Platz mehr dafür gibt.“
„Mehmet, das war doch eindeutig ein Angriff auf die gesamte zivilisierte Welt!“
„Seit wann ist denn der rassistische, ignorante und selbstverliebte Durchschnittsamerikaner der Gipfel der Zivilisation?! Gott sei Dank gibt es einen Haufen Länder, die entschieden zivilisierter sind als die USA. Für mich ist dieses Attentat eine besonders hirnrissige Reaktion auf den Imperialismus und die gnadenlose Ausbeutung der Dritten Welt durch das US-Kapital.“
Bei diesen Frechheiten werde ich mit offenem Mund dastehen und vor Empörung keine vernünftigen Antworten wissen.
„Als erste Reaktion hat Israel unbemerkt von der Öffentlichkeit angefangen, die palästinensischen Gebiete zu bombardieren“, wird er philosophieren.
„Das hat doch überhaupt nichts zu sagen. Die Israelis bombardieren die Palästinenser doch sowieso jeden Tag“, werde ich dann kontern.
„Und die Russen nutzen die Gunst der Stunde, um ungeniert halb Tschetschenien zu zerbomben.“
„Die Russen haben sich doch nie dabei stören lassen. Die öffentliche Meinung ist denen sowieso egal.“
„Die Rüstungsfirmen bekommen Aufträge wie lange nicht mehr, und deren Aktienkurse steigen ins Unermessliche.“
„Aber das ist doch nur positiv zu sehen. Das schafft endlich neue Arbeitsplätze.“
„Die europäische Währung hatte durch das Attentat auch Vorteile. Der Euro bekam gegenüber dem US-Dollar Flügel. Ist das nicht peinlich?!“
„So wie ich dich kenne, vermutest du sogar die Bild-Zeitung hinter den Anschlägen. Denn schließlich war die am nächsten Tag überall ausverkauft.“
„Es ist gar nicht mal so abwegig. Ich vermute diese Zeitung hinter vielen rechtsradikalen Anschlägen als Anstifter.“
„Wahrscheinlich vermutest du auch noch den armen Rudolf Scharping dahinter. Dadurch ging doch sein Skandal unter.“
„Nein, Vater, gegen ihn habe ich gar keinen Verdacht.“
„Mehmet, mein einziger Trost in diesen schlimmen Zeiten ist, dass die ganze Welt sich endlich einig ist, gegen den Terror gemeinsam anzutreten.“
„Ich weiß nicht, ob das so positiv ist?! Ich kriege das Kotzen, wenn ich sehe, dass jeder Diktator seine Opposition zu „Terroristen“ erklärt und zum Abschuss freigibt.“
„Wie dem auch sei, die Amerikaner wollen der Zivilbevölkerung in Afghanistan nichts Böses tun. Sie schicken mit den Bomben zusammen Nahrungsmittel und Hilfsgüter.“
„Ja, ja, nachdem der amerikanische Geheimdienst die Taliban mit viel Geld mühsam selber gezüchtet hat, die jetzt ihr eigenes Volk aushungern lassen“, antwortet er mir im Geiste und fügt sarkastisch hinzu: „Damit die afghanischen Zivilisten bei den US-Angriffen wenigstens mit vollem Bauch sterben dürfen!“ „Aber in Wirklichkeit ist das überhaupt nicht komisch und eine grauenhafte Doppelmoral“, wird er mir verkünden; „wenn die Guerillas der CIA nützen, dann nennt man sie Freiheitskämpfer. Wenn nicht, dann erklärt man sie zu Terroristen. Dabei haben sich die Interessen und die Ziele der Taliban nie verändert. Nur die Position der USA ist eine neue. Damals wollten sie verhindern, dass der Russe freien Zugang zum Indischen Ozean hat. Und jetzt wollen sie erreichen, dass das russische Erdgas endlich diesen freien Zugang bekommt.“
Plötzlich höre ich, wie meine Frau im Wohnzimmer das Fenster aufreißt und auf die Straße brüllt: „Osman Bin Laden, Osman Bin Laden!“ Völlig in Panik, stürze ich ins Wohnzimmer und reiße sie vom Fenster weg! „Frau, bist du verrückt geworden?! Willst du mich fertig machen?! Wie kannst du so was in aller Öffentlichkeit rumbrüllen?! Mein algerischer Arbeitskollege hat mir erst heute Mittag erzählt, dass sein Nahverkehrszug schon zweimal nur seinetwegen von Spezialeinheiten gestürmt worden ist, als er morgens zur Arbeit fuhr. Und unser Meister Viehtreiber hat allen arabisch aussehenden Kollegen verboten, sich dem Hochofen zu nähern. Wir dürfen in der Pause nicht mal Messer und Gabel benutzen! Und du schreist hier wie eine Irre durch die Gegend, ich sei Osman Bin Laden!“
„Osman, was quatschst du da schon wieder für einen Blödsinn?! Da draußen auf der Straße steht dein Kumpel Hans und ruft nach dir. Und weil ich dich nicht gefunden habe, dachte ich, du bist im Gemüseladen einkaufen. Deswegen habe ich ihm zugerufen; Osman ist im Laden!“
Mit hochrotem Kopf ziehe ich mich wieder in mein Trainingslager zurück. Gleich darauf sehe ich meinen Gegner in der Haustür stehen.
„Na, Mehmet, wie war denn dein Tag in der Uni?! Heute wieder viele Revolutionen geschafft?“, frage ich siegesgewiss.
„Nein, Vater, ich komme direkt von der amerikanischen Botschaft“, sagt er mit leiser Stimme.
„Was soll das heißen, habt ihr die etwa in die Luft gejagt?“
„Vater, ich habe heute keinen Nerv auf deine dummen Sprüche! Die Sache ist einfach viel zu ernst. Ich habe gerade zusammen mit meinen Kommilitonen einen Kranz vor der amerikanischen Botschaft niedergelegt. Keine Ideologie und kein Glaube der Welt rechtfertigt den grausamen Tod tausender unschuldiger, ziviler Opfer!“
Bei Allah, ich traue meinen Ohren nicht! Die Welt ist wirklich nicht mehr das, was sie vor dem 11. September einmal war!
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