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Rotwein und Brausepulver

„Ortsversetzt“ nennt sich eine Veranstaltungsreihe der Berliner Literaturinstitutionen. Zum Start versetzte Günter Grass seine Zuhörer in längst vergangene Zeiten

Leider war es nichts für die ganze Familie. Eher etwas für die ganz Kleinen und die Hochbetagten. Im Museum für Kommunikation in der Leipziger Straße wurde am Samstagabend das Projekt „ortsversetzt“ eröffnet, das die fünf großen Literaturinstitutionen Berlins zusammen betreuen. Bis Ende November wird es in Ausstellungen, Gesprächen und Lesungen um immer andere Orte und Zeiten gehen, das ominöse, attraktive Fremde schlechthin: Reiseliteratur, Migrationsbewegung. Mündliche Erzähltradition. „Halten Sie Augen und Ohren offen, achten Sie auf die vielseitigen Angebote“, heißt es im Programm.

Okay. Mit einer Lesung und einer Kinderbuchillustratorenausstellung fängt es an. Hunderte gutgekleidete, nicht zu glamouröse Menschen laufen die Treppen auf und ab, unter ihnen viele ernsthafte Mittzwanziger, die wohl von der Geschichte lernen wollen, von den Alten und so, schließlich liest heute abend Herr Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass. Vielleicht wollen sie auch sehen, was es Neues gibt auf dem Kinderbuchmarkt.

In den Räumen zur „Sechse kommen durch die Welt“-Ausstellung schauen die Illustratoren, die das Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur LesArt ausgewählt hat, hold von der Wand herab: Tomi Ungerer aus Straßburg. Der aus Brünn gebürtige Peter Sís, der in Paris lebende Grégoire Solotareff. Vielgereiste Künstler, die auch ihre Figuren durch die ganze Welt geschickt haben. Und während die Kinder, die sicher irgendwann in die Ausstellung kommen werden, auf Kissen am Boden in den ausliegenden Büchern lesen, können die Erwachsenen über die Globalisierung nachdenken. Oder über den Drang der Künstler, von anderen Orten zu erzählen. Sís hat seiner Tochter Madeleine ein düsteres Buch über einen Psychotrip nach Prag gewidmet. Solotareff schickt das kluge Hasenmädchen Bella auf eine Fragereise: „Was meinst du“, fragt sie den Bären, dem sie begegnet, „ist man im Leben allein?“ Ganz sicher nicht. Nur wenn man will.

Im zweiten Ausstellungsraum werden die Eröffnungsbesucher noch einmal begrüßt. Auf Kinderbuchart lernen sie die Ausstellungsmacher kennen: Claudia und Heiko und David und Maria. Das habt Ihr toll gemacht! Nachnamen gibt es in der Kinderbuchwelt wahrscheinlich nicht.

Im Museumscafé sitzt derweil Günter Grass und weiß noch nicht, dass er später sagen wird: „Alle große Literatur geht von der Provinz aus.“ Um Punkt acht sitzt Dietrich Simon von der S.-Fischer-Stiftung am Moderatorenpult und schaut in eine ausverkaufte, überheizte Lobby. Grass, in dunkelgrün, tritt bald hinzu. Da sitzen die beiden Herren, trinken gemütlich Rotwein und unterhalten sich über vergangene Zeiten. So ist es gut, so wird es bleiben. Simon erinnert an frühere Treffen, Grass liest eine im letzten Jahr in Vilnius gehaltene „Rede an die Erinnerung“. Darin geht es um Brausepulver, um Steinpilze und die schwere Erinnerungsarbeit der Deutschen. Das jungfräuliche Gelände der Zukunft, in der die Vergangenheit schon ihre Duftmarken gesetzt hat. Es klingt nach Grass, nur nicht nach Gegenwart.

Etwas müde hakt Simon nach. Das Brausepulver und Prousts Madeleine? „Erinnerung setzt immer neue Schichten frei,“ sagt Günter Grass. Liest dann, im Oktober 2001, „Glaube Liebe Hoffnung“ aus der 1958 erschienenen „Blechtrommel“. Man plaudert über „Ein weites Feld“ und die Wiedervereinigung. Schließlich trägt Grass noch einen Text „von vor zwanzig Jahren“ vor: Über die Leichtigkeit der südlichen Welt. Und das in Berlin. Türken, Spanier und Griechen, lauter heitere Ausländer. „Wenn das nicht Zukunft ist?“ liest Grass. Beugt sich zum Publikum und sagt: „Und nun wünsche ich Ihnen morgen eine richtige und gute Wahl.“ Wahrhaftig, die Lesung ist aus, das Altmännertreffen vorbei. Keine Fragen, bloß Applaus. CHRISTIANE TEWINKEL

Mehr Infos: www.ortsversetzt.de

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