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Apodiktische Gültigkeit

Nur Mathematiker können glücklich sein

von GABRIELE GOETTLE

Friedrich Hirzebruch, emer. Univ.-Prof., Dr. rer. nat., Dr. h. c. mult (12), eh. Dir. d. Max-Planck-Inst. f. Mathematik Bonn. 1945–1950 Studium d. Mathematik, Physik u. Mathematischen Logik, Univ. Münster u. Eidgenöss. Technische Hochschule Zürich. Promotion 1950, Univ. Münster. 1952–1954 Mitglied d. Institute for Advanced Study, Princeton, USA. 1955 Habilitation (Neue Topologische Methoden in der algebraischen Geometrie). 1955–1956 Assistent Professor a. d. Princeton University, USA. 1956 Berufung z. ordentl. Prof. a. d. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät d. Univ. Bonn, 1962–1964 Dekan d. Fak., (emeritiert 1993). 1969–1985 Mitbegr. u. Sprecher d. Sonderforschungsbereiches „Theoretische Mathematik“ a. d. Univ. Bonn. 1980–1955 Mitbegr. u. Direktor d. Max-Planck-Instituts für Mathematik, Bonn. Mitglied von 21 Akademien, darunter: Deutsche Akademie d. Naturforscher, Leopoldina i. Halle (seit 1963); Foreign Associate National Academy of Sciences, USA (1986); auswärt. Mitgl. d. Russischen Akademie d. Wissenschaften (1993); ausw. Mitgl. d. Royal Society, London (1994). Erhielt dieverse Ehrungen u. Auszeichn., darunter: Wolf-Preis i. Mathematik, Israel (1988); Lobatschewski-Preis d. Akademie d. Wissenschaften, UdSSR (1990); Großes Verdienstkreuz m. Stern der BRD (1993); Seki-Preis, Goldmedaille d. Albert Einstein Gesellsch., Bern (1999); Krupp-Wissenschaftspreis (2000). Er war oder ist Mitglied bzw. Vorsitzender, mehrer intern. Math. Vereinigungen u. Gesellschaften; ist Mitglied d. Herausgebergremiums der „Mathematischen Annalen“ (1961– 1996) u. d. Zeitschrift „Topology“ (seit 1962). Verfasser des Lehrbuches „Neue topologische Methoden in der algebraischen Geometrie. Ergebnisse der Mathematik und ihrer Grenzgebiete.“ (Übersetz. ins Englische, Japanische u. Russische), sowie Verf. zahlr. wissensch. Veröffentlichungen und Buchbeiträge. Friedrich Hirzebruch wurde am 17. Oktober 1927 in Hamm/Westfalen geboren, seit 1952 verheiratet mit Ingeborg Hirzebruch, 3 Kinder (beide Töchter studierten Mathematik).

Die Mathematik strukturiert unseren Alltag und steckt in jedem Ding der gemachten Welt, die uns umgibt. Dass das nur selten auffällt, liegt daran, dass sie, Präzision vorausgesetzt, funktioniert. Mehr will man eigentlich davon nicht wissen. Das kränkt die Mathematiker. Während Biotechnologie in aller Munde ist und selbst das Feuilleton erorbert hat, bleibt es um die Meilensteine der Mathematik – insbesondere der reinen – meist ganz still. Während die „Entschlüsselung des Genoms“ öffentlich bejubelt und dem Zeitungsleser liebevoll erklärt wird, beschränken sich Jubel und Streit um den endlich gefundenen Beweis des Vierfarbensatzes weitgehend auf das kleine internationale Kollektiv der Mathematiker. Außenstehende bleiben von den unverständlichen Problemen unbeeindruckt. Dazu kommt, dass die Mathematik eine äußerst wortkarge Wissenschaft ist. Dennoch zeigt sich: Wenn sie in einer gut erzählten Geschichte in Erscheinung tritt, finden sich trotz des hohen Schwierigkeitsgrades erstaunlich viele interessierte Leser. Die Fermat’sche Vermutung, 1637 an den Rand einer Buchseite geschrieben, hat viele Mathematiker heftig herausgefordert und konnte erst Ende des 20. Jahrhunderts endgültig als wahr bewiesen werden. Ein Buch hat sie berühmt gemacht. „Fermats letzter Satz“ erzählt von der Suche nach Lösungen und Beweisen und wurde ein Weltbestseller.

Aber solche Beispiele sind selten. Für den mathematischen Laien vollzieht sich die hochabstrakte moderne Mathematik jenseits seiner Wahrnehmungsgrenze, hinter verschlossenen Türen und in verschlossenen Köpfen. Was eigentlich gemacht wird und wozu, bleibt unbekannt, ein Geheimnis, das die Öffentlichkeit kaum interessiert. Was das Wozu betrifft, so geraten in Zeiten anwendungsorientierter Wissenschaft und des schnellen Vermarktungszwanges, die Vertreter der reinen Mathematik natürlich unter zunehmenden Druck. Heute wagt es wohl kaum einer von ihnen mehr laut zu sagen, dass Mathematiker stolz darauf sind, unnütz zu sein, nur dem Reinen verpflichtet, der Wahrheit und Schönheit und der Lösung immer komplexerer Probleme. Die kontemplativen Mönchsorden hatten die gleichen Rechtfertigungsprobleme. Auch sie widmeten sich dem Reinen, der Erkenntnis, dem Weg zum Absoluten. Zum Ausdruck ihrer rein geistigen Orientierung trugen asiatische Mönche eine halbierte menschliche Hirnschale als Bettelnapf bei sich.

Natürlich ist die reine Mathematik heute kein brotloser Beruf. Die etablierten Mathematiker leben wohl honoriert in Forschung und Lehre, reisen viel und pflegen intensiv den Kontakt zum internationalen Kollektiv. Ihre Forschungsarbeit selbst hingegen ist – im Vergleich zu den experimentellen Naturwissenschaften – ausgesprochen kostengünstig.

Das Max-Planck-Institut in Bonn, ein Forschungszentrum von internationaler Bedeutung, nimmt nur 0,5 Prozent des Gesamthaushaltes der Max-Planck-Gesellschaft in Anspruch, die Physik 30 Prozent. Herr Professor Hirzebruch, der ehemalige Direktor, ohne den dieses Institut gar nicht existieren würde, musste jahrzehntelang für die Gründung eines solchen Instituts plädieren. Nachdem der erste Versuch 1960 gescheitert war, gründete er 1969 am Mathematischen Institut einen Sonderforschungsbereich „Theoretische Mathematik“ (gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft). Elf Jahre später gelang es ihm schließlich, aufgrund der großen Reputation seines Forschungsbereichs, die Gründung eines Max-Planck-Instituts durchzusetzen und hochkarätige Wissenschaftler zu gewinnen. Hirzebruchs eigene mathematische Karriere begann im Alter von 20 Jahren mit der Entdeckung der sog. Hirzebruch-Flächen, was ihm einen zweijährigen Forschungsaufenthalt in den USA, am Institute for Advanced Study in Princeton einbrachte. Dort wurde er mit mathematischen Methoden vertraut, die in Deutschland – das nach der Vertreibung der jüdischen Wissenschaftler weit zurückgefallen war – vollkommen unbekannt waren. Methoden, mit so seltsamen Namen wie „kohärente analytische Garben“ oder „Vektorraumbündel“. In Princeton gelang ihm das, was für jeden Mathematiker das höchste Glückserlebnis ist, er fand einen Beweis, konnte den sog. Satz von Riemann-Roch in beliebigen Dimensionen beweisen. Das brachte ihm sofortigen Weltruhm in der internationalen Fachwelt. Viele der besten Mathematiker hatten sich vergeblich mit diesem Problem beschäftigt. Seit 1954 nimmt der Satz von Riemann-Roch-Hirzebruch in der algebraischen Geometrie eine Schlüsselrolle ein. Damit war Hirzebruch aktiver Mitstreiter und Konkurrent im internationalen Wettstreit des Mathematikerkollektivs.

Herr Professor Hirzebruch war umstandslos zu einer Verabredung bei ihm zu Hause bereit. Gleich beim ersten Telefonat machten wir einen Termin aus, und er erklärte mir, präzise und ohne jede Umständlichkeit, wie wir vom Bahnhof aus mit der Straßenbahn zu dem Vorort gelangen, in dem er wohnt. Dabei nannte er nicht etwa nur die Lage der Haltestelle, Nummer und Richtung der Straßenbahn, sondern auch den Preis des Fahrscheins, Zone A, die Anzahl der Stationen und die genaue Abfahrtzeit, damit wir zum vereinbarten Zeitpunkt am Ziel ankommen, wo er uns mit dem Auto abzuholen versprach. Beim zweiten Anruf wurde der Plan dann allerdings umgestoßen, er schlug vor, uns zuerst sein Institut zu zeigen und anschließend gemeinsam mit der Straßenbahn zu ihm nach Hause zu fahren. Bei dieser Verabredung blieb es. Wir fürchteten uns ein wenig davor, auf einen pedantischen alten Herrn zu treffen, für den das Ausmaß unserer Laienhaftigkeit in mathematischen Fragen ebenso unvorstellbar ist wie für uns das Ausmaß seines Fachwissens.

Der Bahnhof der ehemaligen Bundeshauptstadt erinnert stark an Berlin, es riecht nach Urin, die sozialen Problemfälle lagern mit Bierbüchsen am unteren Ausgang zur Fußgängerzone, eine alte Frau im Rollstuhl, beladen mit zahlreichen Tüten, hat ein Pappschild aufgestellt, auf dem sie vor dem 4. Reich warnt. Sie schläft. Nicht weit vom Bahnhof ist der Münsterplatz mit Münster, Beethoven-Denkmal und dem ehemaligen Fürstenberg’schen Palais. Im Erdgeschoss des gelben Gebäudes aus dem 18. Jahrhundert ist die Post, in den darüber liegenden Stockwerken residiert das Max-Planck-Institut für Mathematik, wo uns Professor Hirzebruch pünktlich in Empfang nimmt und in sein geräumiges Büro geleitet. Er trägt ein Tweedjackett, helle Jeans und schwarze Reebok-Turnschuhe, wirkt sehr sanft, umgänglich, wohl sortiert und etwas trocken. Mit fester Stimme und rheinländischer Sprachmelodie bittet er uns Platz zu nehmen, erzählt uns mit sehr präzisen Sätzen und entsprechender Rücksicht von der Gründungsgeschichte des Institutes und dessen Arbeitsschwerpunkten. Auf dem Tisch liegt eine hellblaue Mappe, in der er für uns nicht nur sein Curriculum Vitae und eine Liste seiner Veröffentlichungen bereitgelegt hat, sondern auch eine kleine Auswahl von Broschüren, Vorträgen und fotokopierten Texten, zu unserer Orientierung und zum besseren Verständnis der Angelegenheit. Er deutet zum Schreibtisch, auf dem das Modell eines modernen Gebäudes steht: „Das haben mir meine Studenten gemacht, zur Erinnerung an unser ehemaliges Institutsgebäude. Es lag auf der anderen Rheinseite. 1982 sind wir in das angemietete Haus eingezogen, deshalb betrachten wir das als unser Gründungsjahr.“

Das Modell ist liebevoll mit Details ausgestattet, durchs aufgeschnittene Dach blickt man ins voll eingerichtete Hirzebruch’sche Arbeitszimmer, unten am Haus lehnt ein Fahrrad aus Draht. „Ich habe das ja gegründet, insofern gehört es zu meinen wichtigstens Kindern. In diesem Haus hier – das ich Ihnen anschließend zeigen werde – sind wir erst seit März 2000. Die Hauptidee war, dass die beste Förderung der Mathematik darin besteht, dass man Gastmathematiker aus vielen Ländern zusammenführt, und zwar so, dass sie miteinander reden können, denn die Fortschritte entstehen auch bei der Diskussion. Sie müssen natürlich etwas zueinander passen, vom Fachgebiet her. Und das wird ihnen dann für ein, zwei Jahre geboten, oder auch für ein paar Monate, sich frei von anderen Verpflichtungen, nur der Forschung zu widmen.“ Er putzt sich die Nase mit einem großen Herrentaschentuch.

„Diese Art von Gastforschungsinstituten gab es nicht. Ich habe die großen Vorteile in Princeton kennengelernt, am Institute for Advanced Study. Es wurde ungefähr 1933 gegründet, und hat dann auch aus Deutschland vertriebene großartige Wissenschaftler aufgenommen, wie z. B. Einstein und Gödel; die waren dort. Also Einstein haben wir in Princeton oft gesehen, sind ihm begegnet, er hatte sein Büro im Hauptgebäude. 1955 ist er ja schon gestorben. Aber dieses Institut, an dem ich dort als Gastforscher war, das wurde für mich das Muster. Nach diesem Muster, als reines Gastforschungsinstitut und ganz anders als die anderen Max-Planck-Institute wurde dieses M.P.I. dann aufgebaut. Aber das war nicht ich alleine. Und es gab Vorarbeiten, wie die jährliche Arbeitstagung, die ich 1957 gegründet habe und die ohne die Mitarbeit von so herausragenden Mathematikern wie Sir Michael Atiyah aus Edinburgh, nie eine solche Bedeutung gewonnen hätte. Die Arbeitstagung war der Kern für den 1969 gegründeten Sonderforschungsbereich, und aus ihm ging sozusagen das M.P.I. hervor. Seit meinem Ausscheiden gibt es ein Viererdirektorium, bestehend aus den Professoren Gerd Faltings, Günter Harder, Yuri Manin und Don Zagier, alle vier Direktoren sind gleichberechtigt, sie wechseln sich alle zwei Jahre in der Geschäftsführung ab. Derzeit ist Professor Manin der geschäftsführende Direktor.“

Herr Hirzebruch erhebt sich, um mit uns durchs Haus zu gehen. Bevor wir sein Büro verlassen, in dem akribische Ordnung herrscht, möchten wir noch wissen, was es mit den Dekorationsstücken auf sich hat, mit den Bildern, Fotos, der asiatischen Dame unter einem Glassturz. „Also die zahlreichen Chinesen und Japaner, die hier durch Bonn reisen, die bringen mir immer was mit, einen Fächer, ein Täschchen . . . Und wo das nun herkommt . . . Das Bild dort, das ist aus Indien, die Eltern von Professor Zagier haben es mir anlässlich meiner Emeritierung geschenkt, da hinten, das kleine Portrait von Kepler ist ein Geschenk aus Polen . . ., und dann hier ist . . . ja . . . die Harvard-Universität hatte 1999 eingeladen zu einer Tagung, zu Ehren von vier Mathematikern. Das nannte sich dann im Volksmund ‚Viererbande‘, es waren: Sir Michael Atiyah, Raoul Bott, er ist Professor in Harvard, Singer ist Professor am M.I.T. und ich. Unsere Arbeiten waren in gewisser Weise eng miteinander verknüpft . . .“ Wir zeigen auf den Schreibtisch und fragen, wo der Computer ist. „Ja es ist so“, sagt Herr Professor Hirzebruch, während er ein herumliegendes Buch in die Lücke zurückschiebt, „mein Verhältnis zum Computer ist sehr gemischt, im Augenblick ziehe ich die traditionelle Arbeitsweise vor. Die Sekretärin macht auch die E-Mail. Es ist so, die Mathematischen Sätze werden ja bewiesen, weil sie grundsätzlich Aussagen über unendliche Mengen sind, der Computer aber kann nur endliche Mengen behandeln, man kann Vermutungen testen, aber nicht beweisen. Der Mathematiker möchte eigentlich einen Beweis, den er am Schreibtisch machen kann, den die so genannte Mathematical Community auch kontrollieren kann. Bei Beweisen mit Computerhilfe würde es viele Menschenleben brauchen, um die Berechnungen wirklich nachzuprüfen. Also ein Beweis, der völlig im Kopf konzipiert ist, wobei er schließlich ganz durchdrungen und vereinfacht wird. Der ist schön. Das ist es, was gemeint ist mit der Schönheit der Mathematik.“

Dann besichtigen wir das Haus. Wer zufällig den Weg kreuzt, wird uns vorgestellt, ein amerikanischer Gastprofessor ebenso wie eine vorbeieilende Angestellte. Im Gebäude befand sich die alte Hauptpost, sie zog aber, nach dem Wechsel der Politbürokratie in die neue Hauptstadt, in ein kleineres Quartier. Vom 1. bis 4. Obergeschoss wurde das weiträumige Gebäude dann um- und neu ausgebaut nach den Bedürfnissen und Vorstellungen des M.P.I., das aber nur Mieter ist. Man verfügt nun über 3.500 Quadratmeter. 109 Büros gibt es, wobei die der Gastwissenschaftler von zellenartiger Größe sind und neben der Tür, in gleicher Höhe einen gläsernen Sichtschlitz haben. Manche der Glasscheiben sind zugehängt. Derzeit sind 60 fast ausschließlich männliche Wissenschaftler aus verschiedenen Nationen anwesend. Neben den vier fest angestellten wissenschaftlichen Mitarbeitern des Direktoriums gibt es drei weitere Wissenschaftler auf Dauerstellen sowie etwa ein Dutzend Angestellte in der Verwaltung, meist Frauen, die hier das weibliche Geschlecht fast ausschließlich repräsentieren.

Wir gehen treppab, treppauf, durch schmale Flure und lichtdurchflutete Räume, vorbei an Bogenfensterchen, durch die man direkt in die Herrenabteilung des benachbarten Kaufhauses blickt, auf nackte graue Schaufensterpuppen, die statt des Kopfes einen Fernsehapparat auf den Schultern tragen. Es gibt einen großen Hörsaal, der ehemals, in den alten Zeiten der Handvermittlung, der Telegraphensaal war, in dem die Fräuleins vom Amt die Verbindungen stöpselten. Zuletzt besichtigen wir die Bibliothek unterm Dach, das schöne Gebälk liegt frei, dazwischen sind die Regale über 350 Quadratmeter verteilt. Es ist kein Mensch da. Wir spazieren an der Fachliteratur vorbei und an einem Regal mit dem Schild „Light Literature“. „Das gehört nicht dem Institut, das stellt die Allgemeinheit hier so hin nach dem Gebrauch“, erklärt Herr Professor Hirzebruch.

Dort stehen vor allem japanische Taschenbücher, meist Comics, teils dick wie ein Telefonbuch. Es gibt auch Abgegriffenes in kyrillischer Schrift. Beim Hinuntergehen fällt uns ein Lichthof auf. Im Freien, unter einem gläsernen Schutzdach steht ein recht unwirtlich aussehendes Ensemble von Sitzgelegenheiten. Der Katzentisch für die Raucher, wird uns erklärt. Im gesamten M.P.I. herrscht strenges Rauchverbot. Raucher sind weniger die Mathematiker, mehr die Physiker, erfahren wir, und da wiederum sind es besonders die Russen und Franzosen, die leidenschaftliche Raucher sind. Es ist alles besichtigt. Es ist Mittag, die Glocken des Münsters läuten melodisch. Herr Professor Hirzebruch schultert einen schwarzen City-Rucksack mit dem Namenszug von Alexander von Humboldt (ein Geschenk der gleichnamigen Stiftung an ihre Gutachter) und lädt uns zum Essen ein in sein Lieblingsbistro. Als er unterwegs eine kurze Zeit vor uns her geht, fällt uns auf, dass seine linke Schulter steil nach unten hängt. Er erklärt uns, das sei nichts weiter als eine Angewohnheit, die im Prinzip durch das Hochziehen der Schulter zu beheben sei. Einige Momente lang hebt er die arme Schulter, die unter der totalen Vorherrschaft des Kopfes einfach in Vergessenheit geraten ist.

Die anschließende Straßenbahnfahrt (Karten hatte Herr Hirzebruch bereits in der Tasche, vergaß aber sie abzustempeln), endet in St. Augustin, wo wir in seinen alten verchromten Mercedes umsteigen und nach wenigen Minuten vor einem modernen, weißen Einfamilienhaus ankommen, das am Rande einer Villensiedlung liegt. Frau Hirzebruch empfängt uns sehr unverkrampft und herzlich. Sie hat Mathematik und Biologie studiert, beim Studium ihren Mann kennengelernt und 1952 geheiratet. Die beiden scheinen ein gut eingespieltes Team zu sein. Wir werden durch eine offene Diele ins große Wohnzimmer geführt. Der Blick fällt durch eine breite Glasfront direkt ins sanfte Grün des Gartens. Es gibt einen ziegelfarbenen Kachelboden, schöne Teppiche, Regale voller Kunstbände und einen offenen Kamin. Wir loben Haus und Garten. Frau Hirzebruch lächelt etwas bitter und sagt: „Aber wir haben Rehe!“ „Was??!“, ruft er aus. Sie führt uns in den Garten, zeigt auf Pflanzen und Gewächse: „Hier diese Pflanze war gestern noch voll mit Blüten. wir haben enorme Verluste . . . sie fressen Geranien, Rosen . . . ich bin ganz ärgerlich.“ Er sagt: „Diesen Ärger hatten wir schon mal vor ein paar Jahren. Sie kommen von hier hinten, wo der Golfplatz ist, setzen wohl über Brombeerhecke und Zaun und fressen dann die Rosen, unerhört!!“

Frau Hirzebruch zeigt uns Losung und Hufabdruck der Missetäter. Dann werden wir zurück ins Haus gebeten, zu Tee, Kaffee und einem selbstgebackenen Pflaumenkuchen, der ganz zart nach Zimt schmeckt. Herr Professor Hirzebruch nimmt ein Gäbelchen und sagt: „Am Beispiel dieses Pflaumenkuchens lässt sich gut etwas, das zur Zahlentheorie gehört, erklären. Also ich kann, mit Zirkel und Lineal, den Kreis in 6 gleiche Stücke teilen, weil ich ein gleichseitiges Dreieck konstruieren kann, ich kann auch in 4 gleiche Stücke teilen und damit in 8 . . . immer mit Zirkel und Lineal, es wird ja hier an einen idealen Kreis gedacht, nicht an einen Pflaumenkuchen. Ich kann ihn also in 3, 4, 6, 8 gleiche Teile einteilen. Aber z. B. nicht mit Zirkel und Lineal in 7 gleiche Teile, 5 geht wiederum. Gauß hat mit zahlentheoretischen Methoden, mit Methoden der Algebra, herausgekriegt, für welche Primzahlen man den Kreis mit Zirkel und Lineal in p gleiche Teile einteilen kann, also zum Beispiel in 17 gleiche Teile oder auch in 257.“ Frau Hirzebruch lächelt und sagt: „Ich bin nur mit Messern ausgestattet, deshalb sind unsere Stücke natürlich nicht alle gleich.“ Wir fragen, ob es ihr nicht schwergefallen sei, Studium und Beruf aufzugeben. Sehr souverän sagt sie: „Nein, ich hatte nie das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Schon bevor ich heiratete, war mir ganz klar, ich werde, wenn ich heiraten würde, Kinder haben wollen. Mich ihnen widmen. Das klingt vielleicht ein bisschen altmodisch, aber so war ich aufgewachsen, und das war mein Wunsch. Und gelangweilt habe ich mich ja nie, durch die vielen Auslandsaufenthalte, die Gespräche, die vielen Gäste durch den Sonderforschungsbereich. Selbst wenn ich gewollt hätte, da wäre kein Platz mehr gewesen für einen selbstständigen Beruf. Und mein Mann hätte sich ja nicht um die Kinder kümmern können, er hatte ja so wenig Zeit.“ Sie blickt mild auf den Gatten. Er fügt hinzu: „Ich hab immer gerne mal geholfen, bin z. B. mit dem Kinderwagen durch die Stadt Bonn hindurch gefahren, zu Zeiten, wo das in Deutschland noch voll ungewöhnlich war, als unmännlich galt. Wir kamen gerade aus Amerika, dort war das so üblich.“

Auf unsere Frage, ob es ein mathematisches Problem gebe, an dem er ein Leben lang herumgedacht habe, sagt er: „Nein, erfreulicherweise nicht. Ich habe gar nicht erst mit so etwas angefangen. Es gibt ja Probleme, wo gar keine Aussicht besteht, sie zu lösen, z. B. dass jede gerade Zahl als Summe von zwei Primzahlen geschrieben werden kann, die Goldbach’sche Vermutung von 1742, scheint unbeweisbar. Wenn man sich da reinstürzt, wird man vielleicht sein Leben lang nichts anderes machen, allenfalls dabei hilfreiche Theorien entwickeln, für andere Zwecke. Aber an das Problem wäre man nicht herangekommen, vermutlich. Das Clay Mathematics Institute hat im Jahr 2000 ja 7 Probleme ausgeschrieben, in Anlehnung an die 23 Probleme, die Hilbert 1900 in Paris vorschlug, das Preisgeld beträgt je eine Million Dollar. Die Probleme sind so schwer, dass sie ihr Geld nicht so schnell loswerden. Es sind auch alte Probleme dabei, die Riemann’sche Vermutung aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Also es gibt Probleme, wo es gefährlich ist, sich da reinzusteigern.“ Alle bekommen noch ein Stück Kuchen auf den Teller gelegt, wobei sehr darauf geachtet wird, dass die Stücke gerecht geteilt werden – oder auch gleich groß sind –, was Frau Hirzebruch mit ironischem Augenspiel begleitet. „Also weil wir von Teilbarkeit reden, mal noch was anderes: Sie kennen doch die INTERNATIONAL STANDARD BOOK NUMBER, die vorn in jedem Buch drin ist, seit . . .“, sie assistiert: „. . .etwa 30 Jahren.“

Er greift nach einem Buch und schlägt es auf: „Ja hier haben wir also die ISBN-Nummer 3-932529-61-8. Was ist das Besondere an dieser Zahl, mathematisch? Diese ISBN-Nummer ist so gemacht, dass 3 x 1 plus 9 x 2 plus 3 x 3 plus 2 x 4 plus 5 x 5 plus 2 x 6 plus 9 x 7 plus 6 x 8 plus 1 x 9 plus 8 x 10 durch 11 teilbar ist. Rechnen Sie es nach, es stimmt. 11 ist eine Primzahl und weil das Ganze durch 11 teilbar sein soll, können Sie, wenn Sie die ersten Ziffern kennen, die letzten berechnen, oder auch wenn alle Ziffern da sind und eine fehlt, dann können Sie die auch berechnen. Hinten ist die Kontrollnummer. Es ist mehr Information drin, als Sie brauchen, wenn aber der Drucker z. B. beim Abschreiben einen Fehler macht, ist die Summe nicht mehr durch 11 teilbar, der Fehler lässt sich mathematisch feststellen . . . das nennt man Kodierungstheorie. Da gibt’s ganz komplizierte Systeme, die Fehlerkontrolle können auch Computer machen . . . z. B. auf allen Geldscheinen finden sich Nummern, die haben solche Systeme, zur Sicherheit gegen Fälschungen. Ja das ist also so eine zahlentheoretische Anwendung, solche gibt es viele in der Kodierungstheorie. Das gehört zwar nicht zu meinem Forschungsgebiet, ich habe aber gerne Vorlesungen darüber gehalten.“ Wir fragen, ob er eine spezielle Leidenschaft hat. Er sagt, das Wort verkostend: „Leidenschaft . . . ja, die Beziehung zwischen Topologie und Zahlentheorie gehören schon dazu, also z. B. Mannigfaltigkeiten, das sind spezielle topologische Räume, die wunderschön glatt sind, in jeder Dimension betrachtet werden können, so wie die Kugeloberfläche oder die Torusoberfläche . . .“

Herr Professor Hirzebruch bittet uns hinauf in sein Arbeitszimmer. Ein hoher Raum unter dem Dach, mit hohen Regalen und Blick in die Bäume, das ist sein Reich. Ein Fernsehgerät steht da, eine Liege, bedeckt mit einem gelockten Fell, eine Blattpflanze. Im Regal hinter dem Schreibtisch liegen sehr schöne geometrische Körper aus geschliffenem Glas. Herr Hirzebruch gibt uns die schwere Pyramide in die Hand und hält einen kleinen Vortrag über die 5 platonischen Körper, ihre wunderbaren Symmetrien, Art und Anzahl ihrer Ecken und Flächen. Dann reicht er uns einen anderen Glaskörper, die geschliffenen Flächen sind angeordnet wie beim Fußball. „Eine Sonderanfertigung, das Geburtstagsgeschenk eines Schülers, er hat es in Murano machen lassen. Dieser gehört zu den 13 archimedischen Körpern, sie haben diese ganzen wunderbaren Eigenschaften nicht mehr ganz. Sie dürfen unterschiedliche regelmäßige Vielecke haben.“ Er bringt einen Lederfußball mit leichtem Platten. „Damit kann ich jetzt den Euler’schen Satz: E+F = K+2 kontrollieren. Der Fußball hat regelmäßige Fünfecke und regelmäßige Sechsecke, die Eckpunkte sind alle gleichberechtigt, und alle Kanten haben gleiche Länge. Ecken sind es 60. Es gibt 20 Sechsecke und 12 Fünfecke, also 32 Flächen. Ecken 60, plus 32 Flächen, ist 92. Das muss nach Euler, 2 plus Anzahl der Kanten sein, und das heißt, es gibt 90 Kanten. Da brauche ich gar nicht abzuzählen.“ Elisabeth fragt: „Und wenn ich den Fußball eindrücke?“ Er sagt: „Dann ist es topologisch immer noch dasselbe. Sie dürfen ihn drücken, aber nicht zerstören, wenn man ihn ganz aufeinanderpresst, ist es im Grunde immer noch eine Kugeloberfläche.“ Er nimmt ein DIN-A 4-Blatt. „Wenn ich dieses Blatt betrachte, könnte ich immer noch sagen, das ist eine zweidimensionale Welt. Die Leute krabbeln oben herum und auch unten herum, ich könnte immer noch sagen, dieses Blatt, mit seinen beiden Seiten, ist ein zusammengequetschter Ball. Aber man müsste das Zusammenquetschen natürlich korrekt machen, nicht dass Sie diesen Punkt und den Gegenpunkt als gleiche Punkte ansehen. Und wenn Sie jetzt dieses doppelte Blatt ansehen, dann kann ich wieder sagen, es gibt 4 Kanten, 4 Ecken, 2 Flächen . . . und Euler ist wieder richtig. Jedes Stück Papier taugt als Beispiel für den Euler’schen Polyedersatz, jetzt schneide ich eine Kante ab.“ (Er tut’s, schnapp!) „. . . jetzt habe ich immer noch zwei Flächen, habe jetzt aber mehr Kanten und auch mehr Eckpunkte . . . Der Euler’sche Polyedersatz stimmt immer noch.“

Herr Professor Hirzebruch brachte uns am Ende dieses langen Tages dann auch noch zur Straßenbahn. Obwohl ohne Mantel, bestand er darauf, mit uns in der Kälte zu warten, gab uns die Fahrscheine und den Rat, unbedingt abzustempeln. Prompt war der Stempelautomat kaputt.

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