vorlesungskritik: MATTHIAS ECHTERNHAGEN über Absolutes
Cassirer, Goethe und das Gemüt
„Wer jetzt nicht weiterkämpft, hat morgen schon verloren“, steht auf einem Plakat am Eingang zum großen Seminarraum des Instituts für Allgemeine Vergleichende Literaturwissenschaft. Von einer gewissen Aufgeregtheit kündet dieser Spruch, doch die ist wie verflogen, wenn der FU-Professor Gert Mattenklott in den Seminarraum tritt und seine Bücher vor sich auf das Pult legt. Das Thema der Vorlesung an diesem Dienstagnachmittag lautet „Philosophie der symbolischen Formen“.
So heißt auch das Hauptwerk des Neukantianers Ernst Cassirer, in dem dieser eine anthropologische Kulturtheorie entwickelte. Die Vorlesung ist gut besucht, obwohl sich das Thema ein wenig sperrig ausnimmt und von Subjektkritik und Dekonstruktion, den derzeit angesagtesten Diskursen an der Uni, bestimmt nicht die Rede sein wird. Das zeigt auch ein Blick in die Vorstellung der Veranstaltung im Vorlesungsverzeichnis: „Der Kulturphilosoph Ernst Cassirer ist Autor von Büchern über Kant, Goethe und Einstein, über Logik und Mathematik, Natur- und Geisteswissenschaften. Man hat ihn zu Recht als ‚letzten universal Gebildeten des 20. Jahrhunderts‘ (Habermas) bezeichnet.“
Und dann geht es sogar ganz klassisch mit Goethe los. Von diesem sei Cassirer wie viele jüdische Intellektuelle des frühen 20. Jahrhunderts beeinflusst gewesen, so Mattenklott. Beide verbinde das Wissen, dass wir es immer nur mittelbar mit den Dingen der Kultur zu tun hätten. Das sei auch gar nicht anders möglich. Das Absolute sei unerreichbar fern, gleichsam ein monochromes blendendes Licht. In der Aneignung des Lebens gehe es hingegen immer vermittelt zu, das Sonnenlicht könnten wir nur in dessen polychromer Brechung wirklich sehen. Dies habe Goethe im „Faust“ gemeint, wenn es heißt: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben!“
Nach dem wortmächtigen Philosophieexkurs haben sich die Literaturwissenschaftler hinter ihre Schreibblöcke verschanzt, und Professor Mattenklott streift zum ersten Mal mit einem flüchtigen Blick sein Auditorium. Sogleich setzt er seine Rede weiter fort: Man müsse die Sonne schon im Rücken haben, also die Vorstellung eines Absoluten, um die Dinge in ihrer Vielfalt überhaupt wahrnehmen zu können.
Für Goethe wie Cassirer seien die Dinge jedoch nicht minderwertig gewesen, ganz im Gegenteil, schließlich sei das Absolute ja nur an ihnen, wenn auch nur im Abglanz, zu erfassen . . . Die Worte rieseln monoton in die Schreibblöcke der Literaturwissenschaftler, und allmählich breitet sich eine trübe Ernsthaftigkeit aus. Die vergeht auch nicht mehr, als Professor Mattenklott Goethe persönlich aus sich sprechen lässt und vergleichsweise lebhaft zu deklamieren beginnt. Goethe hatte schließlich einiges zu sagen zur Nachahmung der Wirklichkeit, die, wie wir nun ja wissen, immer nur ein weltlich getrübter Widerschein sei. Und dann sagt er: „Das Gemüt, das sich mit einer solchen Arbeit beschäftigt, muss still, in sich gekehrt und in einem mäßigen Genuss genügsam sein.“
Ja, das sind Worte. Gemäßigte, beherrschte Vollkommenheit! Da nimmt Mattenklott seine Brille ab und wendet sich direkt an sein Auditorium. Wie spät es doch gleich sei? Ach ja, noch fünf Minuten. Nun, die sind mit ein paar Fußnoten zum Gesagten und kleineren gedanklichen Routineabschweifungen auch schnell herumgekriegt. Und still, in sich gekehrt, zieht Mattenklott als Erster an dem Flachbau aus Blech, auch Baracke genannt, vorbei. Die Studenten ziehen langsam nach. Auch sie wissen jetzt: Am farbigen Abglanz haben wir das Leben!
Vorlesung „Wissenschaft symbolischer Formen“ von Professor Gert Mattenklott, dienstags ab 14 Uhr, Großer Seminarraum, Hüttenweg 9
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