: Natur Kultur Politik
Von Anfang an wollten sie von der Position der Natur aus das politische System umwälzen. Doch im Laufe ihrer politischen Karriere haben sie den Anschluss an den kategorischen Gegenwillen verloren: Eine kurze Geschichte der Grünen
von MICHAEL RUTSCHKY
Machen wir’s richtig grandios. Bei dem französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss lernte ich, welch hohen Wert die Gesellschaft der Unterscheidung von Natur und Kultur beimisst.
Dabei handelt es sich keineswegs um Offenbarungen: Der Wald sei Natur, das Auto, das ihn durchquert, ein Kulturprodukt; eindeutig und für immer: Lévi-Strauss ist Strukturalist; auf die Unterscheidung selbst kommt es an. Natur/Kultur bilden einen Code, der mannigfaltigste Inhalte zu schematisieren erlaubt.
Und diesen Code haben die Grünen in das politische System der Bundesrepublik eingeführt und zum Arbeiten gebracht, wobei sie auch noch positive und negative Vorzeichen verteilten. Kultur ist negativ, Natur positiv, und auf welcher Seite die Grünen selbst sich verorteten, wissen Sie auf Anhieb.
Obwohl die Grünen längst auf der Innenseite des politischen Systems ankamen und sie seit 1998 sogar mitregieren im Zentralstaat, erfüllt sie doch immer wieder Heimweh nach draußen. Ganz und gar abzustreifen vermögen sie die Sehnsucht nach uneingeschränkter Solidarität mit der Natur nicht: Schließlich liegen hier die Gründe ihres Aufstiegs. Aber auch im Peripheren wirkt sich der Code machtvoll aus. So vermag meine alte Freundin O. die Klamotten von Hans-Christian Ströbele und die von Joschka Fischer ganz genau zuzuordnen; des Weiteren benutzt Ströbele ein Fahrrad, Fischer seinen Dienstwagen. Na?! Meine alte Freundin O., wir studierten zusammen, wandte sich von den Grünen ab, als sie ans Mitregieren gingen. Als wir uns nach langen Jahren zum erstenmal wiedersahen, beschimpfte sie mich als Erstes lustig, dass ich auch zu Hause ein Sakko trage. Meine alte Freundin O. meint, die Grünen hätten schon beim Kosovokrieg wieder in die Opposition gehen sollen. Legitimerweise hält man sich als politischer Mensch ausschließlich dort auf, in der Natur also. Alles andere fordert Verrat und entfremdet.
Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre fiel es unseren Kreisen leicht, die Bundesrepublik, insbesondere ihr politisches System, in einem Zustand von Entfremdung und Erstarrung zu erkennen. Der sozialdemokratische Bundeskanzler, bei unsereinem ohnedies unbeliebt, errang tüchtige Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus; doch verwandelte dieser Kampf die Community insgesamt in die Sympathisantenszene – schließlich kam die RAF aus dieser Community –, alles Verfassungsfeinde, die darüber in eine Art inneres Exil gerieten.
Kein Grund zu Vorwürfen. Die Protestbewegung der Sechziger, die in den Siebzigern mit solchen sinnlosen Operationen wie denen der RAF (und der inzwischen vergessenen K-Gruppen) sich selbst zerstörte, zielte ja tatsächlich auf die gesellschaftliche Totalität. Sie war, mit Adorno gesagt, das Unwahre, das zum falschen Leben zwingt; der Protest war das Nichtidentische, das sich der gesellschaftlichen Integration widersetzt. Der Protest sollte einen mächtigen, aber formlosen Kollektivwillen, eigentlich die Gesellschaft, gegen ihre eigenen Subsysteme mobilisieren; kein Wunder, dass das Versprechen von Hochschul- und anderen Reformen keine richtige Begeisterung hervorrief.
Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger war dieser formlose Gegenwille immer noch da, nur richtete er sich jetzt auf den Überwachungsstaat, die Nachrüstung, die Atomkraftwerke. Vielleicht sollte man diesen formlosen Gegenwillen ohnedies als anthropologische Größe ansehen; er ist immer da, nur schweigt er sich manchmal aus.
Die Friedensbewegung, der Protest gegen die Atomkraftwerke, hier konnte sich dies Potenzial nicht nur konkretisieren, es trat auch wieder massenhaft zutage. Der formlose Kollektivwille konnte sich selbst anschauen in der Gestalt von Menschenketten und Sitzblockaden. Und in der Partei der Grünen, die zunächst alles unternahm, um sich als Partei innerhalb des Parlamentarismus zu camouflieren, machte sich der Gegenwille sogar anschlussfähig an das politische System der BRD. Eine rot-grüne Bundesregierung, durfte man sich großzügig ausmalen, würde schaffen, was 1969 mit dem Regierungswechsel, als Willy Brandt Bundeskanzler war, noch misslang: die Protestbewegung in Regierungshandeln überführen. Dass jene sich dabei gründlich ändert – man würde sehen.
Die Nachrüstung verschaffte der Friedensbewegung, dann den Grünen ihren Antiamerikanismus. Erzählt mir nichts, liebe Kinder. Ich erinnere mich genau. Ronald Reagan beendete als ältester Präsident der USA die Entspannungspolitik mit der Sowjetunion und erneuerte die Programmatik des Kalten Krieges. Das empörte vor allem die Deutschen – wie ich damals einem amerikanischen Diplomaten erklärte –, denen die Zeit, als Willy Brandt Bundeskanzler war, so viele Erleichterungen im Verkehr mit Ostberlin und der DDR, dem Ostblock insgesamt bescherte, Erleichterungen, die sie keineswegs wegen Bündnistreue aufgeben möchten. Well, sagte der Diplomat freundlich, that’s nationalism – was mich tief verblüffte. In der Tat äußerte sich die Friedensbewegung zuweilen verschärft linksnationalistisch, spielte das deutsche Volk gegen das amerikanische Imperium aus. Diese Impulse sucht Horst Mahler heute der NPD zu übereignen; bei Joschka Fischer wären sie wirklich völlig fehl am Platze, in den Gegenstimmen zum Bundeswehreinsatz halten sich die nationalistischen Impulse (noch) sehr gut versteckt.
Und dann die Atomkraft. Die Meiler vermochten den Gegenwillen, der sich über die Grünen politisch kompatibel zu machen begann, wieder auf die Höhe der gesellschaftlichen Totalität zu heben. Es ging nicht bloß darum, dass die Atomkraftwerke für die näheren und ferneren Anwohner gefährlich werden, die Entsorgung unlösbare Probleme mit sich bringen könnte, es ging ums Ganze, wie es das Unwahre ist. Die Meiler bilden Monumente des falschen Verhältnisses, das diese Gesellschaft zur Natur einging, ein Verhältnis von Ausbeutung und Unterdrückung. Das Nichtidentische erhielt diesen Namen: Natur; die alternative Partei und ihre Politik machten sich an das schwerstverträumte Ziel der romantischen Philosophie: die Resurrektion der (gesellschaftlich ausgebeuteten und unterdrückten) Natur. Wie unbedingt und zugleich formlos der Gegenwille hier auftritt, zeigten schön noch einmal die Proteste gegen den Castor-Transport. Wo soll das Zeug denn hin, liebe Kinder?
Was die Grünen als Partei also zu versammeln begannen, hat Sigmund Freud mit einer unverändert treffenden Formel das „Unbehagen in der Kultur“ genannt. Die in den Meilern herausgefolterte Naturkraft eröffnet eine lange Reihe von Verfehlungen, die zu korrigieren wären. Das Verhältnis zur Dritten Welt. Das Verhältnis der Männer zu den Frauen. Und Kindern. Ackerbau und Viehzucht. Der Konsum, der unter kapitalistischen Bedingungen, statt die natürlichen Bedürfnisse der Menschen mit den entsprechenden Gütern weise zu stillen, ein undurchdringliches Labyrinth von Ersatzbefriedigungen schuf, in das man am besten gar nicht erst eintritt. Jute statt Plastik! Die Zerstörung „unserer natürlichen Lebensgrundlagen“ infolge der völlig entfesselten Dialektik der Aufklärung und ihrer Technologie.
Indem die Grünen, wie schon ihr Name sagte, dem Gegenwillen in der Gestalt von Natur eine Position verschafften, sodass er sich von den Atomkraftwerken aus durch die gesellschaftliche Totalität zu fressen und die Energiewirtschaft ebenso wie die Klamotten („Naturkleidung“) zu revolutionieren versprechen konnte, damit errichteten sie das von Claude Lévi-Strauss entdeckte mythologische Schema inmitten der BRD-Politik.
Es ist, was unsere Gesellschaft angeht, sehr alt und sehr mächtig. Hinter der romantischen Philosophie erscheint Jean-Jacques Rousseau, der alte Hippie, laut dem wir uns mit jeder Generation weiter vom Naturzustand entfernen, zu unserem Schaden – was viele Mitbürger auch heute intuitiv sofort anspricht, weshalb sie in „Naturkaufhäusern“ shoppen und wütend die Einrichtungen von „Naturparks“ im Stadtinnern fordern, was schlechtweg unmöglich ist. Parks sind immer Kunst.
Von der Position der Natur aus das politische System umwälzen, hierher gehören das imperative Mandat und das Rotationsprinzip, die beide eine Verselbstständigung der Politik (Kultur) gegenüber dem Wählerwillen (Natur) verhindern sollten. Hierher gehörten die Vollversammlungen, die exzessiv eine unbedingte Entscheidung erzwingen sollten, als ginge es um religiöse Erweckung. Hierher gehört die Feier der Spontaneität (statt guter Manieren), aber auch der Vollbart des Mannes und das ungeschminkte Gesicht der Frau, alles Natur. Weil dies über die kalifornischen Hippies zu uns kam, ihrerseits treue Rousseau-Anhänger, und jede offene Anknüpfung an die deutschvölkische Tradition bald abschnitt – wer erinnert sich an Thies Christophersen? –, deshalb erweisen sich auch unsere Grünen und ihre Klientel letztlich als loyale Bewohner des amerikanischen Imperiums.
Freilich bleibt der kalifornische Hippie unpolitisch, der Naturkult Element seiner persönlichen Lebensführung; wer erinnert sich an Jerry Brown? Eine Zeit lang galt der Gouverneur von Kalifornien, genannt Moonshine, als präsidiabel. Jetzt ist er verschwunden.
In Deutschland ließen sich die Grünen tatsächlich auf die politische Arbeit ein. Die formlose, aber imposante Protestbewegung fädelte sich in die Verfahren ein, nach denen man hier drinnen Politik macht. Besonders bei bestimmten Fraktionen der Mittelklassen fanden die Grünen aus pragmatischen Gründen Zustimmung. Zum einen weil diese akademisch ausgebildeten Kader in ihrer Jugend selbst zur Protestbewegung gehört hatten und sich kontinuierliche Identität wünschten. Zum anderen, weil sich das Naturthema gut auf gewisse Mittelklasse-Standards der Lebensführung zuschneiden ließ. Intakte Natur bedeutet so viel wie eine architektonisch ansprechende, sozial kaum verdichtete Suburbia mit guter Luft und wenig Verkehrslärm. Und im Übrigen erfüllt das Unbehagen in der Kultur diese Fraktion der Mittelklassen mit besonderer Macht.
Aber im Lauf der Zeit, der die Grünen auch im Zentralstaat aufsteigen ließ, verloren sie halt übers Politikmachen das Charisma der Protestbewegung, die Anschlussfähigkeit für den kategorischen Gegenwillen. Gewöhnlich erklärt man so etwas mit dem von Schiller adaptierten Kant: Die Ideale werden von der Wirklichkeit korrumpiert, sobald sie die Wirklichkeit umgestalten wollen. Der Protest muss sich anpassen und verrät seine hohen Ziele, schaut euch doch Fischer, diesen Kriegstreiber, an!
Ich misstraue dem Schema Ideal/Wirklichkeit. Das Schema Natur/Kultur erklärt mir das Dilemma der Grünen weit triftiger (das Ideal findet sich auf der Seite der Natur wieder, wie die reinleinene Unterkleidung und überhaupt alles Purifizierte). Das grundlegende Dilemma erklärt sich daraus, dass die Unterscheidung von Natur und Kultur natürlich immer innerhalb der Kultur getroffen wird; niemand war draußen und könnte offenbaren, welche Vorschriften von dort an das Leben hier drinnen ergehen, die Gesetzgebung des Bundes ebenso wie die persönliche Lebensführung betreffend. Politik im Namen der Natur gibt es nicht; so wenig wie Politik im Namen Gottes.
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