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„Geh leise über meines Grabes Flur“

Seit zwei Jahren pflegt ein kleiner Verein den Alten Friedhof von Klein-Glienicke. Der Gottesacker ist 220 Jahre alt, verfiel jahrzehntelang im Schatten der Mauer und wurde nach der Wende von Grabräubern heimgesucht. Zum morgigen Totensonntag ein Rundgang – vorbei an dem, was übrig blieb

Mies van der Rohe gestaltete ein Familiengrab – aber wie sah es aus?Wo der Grenzsoldat Streife lief, mussten für den Bau der Mauer Kindergräber weichen

von JAN ROSENKRANZ

Die Alte wird’s wohl nicht mehr lange machen. Mager ist sie, knochig, kahl und klein. Der Efeu hat sie fest im Würgegriff. Wenn sie den Winter übersteht, wer weiß, vielleicht schlägt sie im Frühling noch einmal aus. Doch den Tod hat sie täglich vor Augen. Man gewöhnt sich daran, wenn man nie etwas anderes sah. Und sie, die alte Esche, sah nie etwas anderes. Denn seit über 200 Jahren ist die Erde, die sie gebar, ein Gottesacker. Friedrich der Große hat den Kolonisten von Klein-Glienicke das Grundstück vermacht – als Beisetzungsstätte für ihre Angehörigen. Damals im Jahre 1781.

Eine mannshohe rote Backsteinmauer umgibt den Friedhof. Durch die kreuzförmigen Löchern wuchert der Efeu. Wie ein Vorhang fällt der Regen und sammelt sich in Pfützen. Der aufgeweichte Boden riecht nach Nässe, Moos und Moder und lässt die Schuhe schmatzen.

Jutta Lütten-Gödecke steht hinter ihrem Mann Heinz-Dieter und kramt einen hellblauen Ringordner aus seinem Rucksack. Das Ehepaar ist in den 50ern, trägt Barbourjacke, sie blau, er braun, und Regenschirme, sie rot, er weiß. Sie stehen am Grab von Gustav Müller-Grote und suchen im Ordner das Foto der „Truman-Villa“. Der Verleger und Buchhändler Müller-Grote hatte dort gewohnt, lange bevor der amerikanische Staatsmann einzog, um in Potsdam mit Stalin und Chuchill über das Nachkriegsschicksal Deutschlands zu verhandeln.

Die markantesten Gräber gehören den Leuten, die auch überregional Bedeutung hatten: Wissenschaftlern, Künstlern, Bankiers und Fabrikanten. „Hier wurden vor allem die Babelsberger Villenbewohner beigesetzt“, sagt Jutta Lütten-Gödecke. Vor nunmehr zehn Jahren stand sie zum ersten Mal auf diesem Friedhof. Ihre Großeltern waren hier beerdigt worden, die Eltern auch. Zusammen mit ihrem Mann suchte sie nach dem Familiengrab. Zunächst vergebens, denn zu verwildert war das Gelände. Dann fanden sie die Grabstätte – überwuchert, bemoost und zusammengefallen. Ihrem Großvater hatte in Babelsberg ein Haus gehört. Das wurde nun rückübertragen. Und so zogen die Gödeckes von Münster an die Havel, bauten das Grab wieder auf und gründeten vor zwei Jahren den Freundeskreis des Alten Friedhofs Klein-Glienicke e. V. – auf dass er erhalten bleibe und wieder erstrahlen möge.

Man kommt gut voran, lobt die Zusammenarbeit mit Grünflächenamt und Denkmalschutz und sucht für verwaiste Grabstellen Paten, die hegen und pflegen und später vielleicht selbst dort beerdigt sein wollen. Im Sommer veranstalten die Gödeckes regelmäßig Führungen. Oft nehmen auch ehemalige Klein-Glienicker daran teil, deren Angehörige hier liegen. „Bei jeder Führung lernt man selbst Neues dazu“, sagt Herr Gödecke und geht voran zum nächsten Grab.

Schlaff hängen die letzten gelben und braunen Blätter an den Bäumen und warten geduldig auf den windigen Todesstoß. In den Buchsbäumchen glitzern Tropfen im fahlen Licht. Viel gibt es nicht zu sehen an der Grabstätte des Philosophieprofessors Alois Riehl. Außer den Grundmauern hat der Zahn der Zeit nichts übrig gelassen, und der ist gnadenlos – selbst vor einem Mies van der Rohe macht er nicht Halt. „Wir versuchen seit langem, zu erfahren, wie das Grabmal ausgesehen haben mag“, sagt Jutta Lütten-Gödecke. Nur der Briefwechsel zwischen der Witwe Riehl und dem großen Architekten ist erhalten. Weil Mies van der Rohe schon die Riehlsche Villa in Babelsberg entworfen hatte, könne er doch auch die familiäre Ruhestätte bauen, bat die Witwe. Was der Meister dann auch tat – aus seinem Lieblingsstein Travertin. Nur wie sie aussah, bleibt vorerst ein Rätsel.

Die Gräber ringsum tragen alte Vornamen. Die Damen heißen Josepha, Elly, Maragarethe, Ida, Luise, Margot und Hedwig, die Herren Heinrich, Gustav oder Friedrich. Schmiedeeiserne Gitterzäune umfrieden die Gräber – rostig und windschief. Der Grabstein ist bereits gefallen, die Inschrift nicht mehr zu lesen, und Fäulnis bahnt sich den Weg durch die morschen Bretter der kleinen Bank.

30 Jahre lang führte Klein-Glienicke ein Dasein als sozialistische Enklave, verbunden mit der DDR nur durch die schmale Parkbrücke über den engen Kanal zwischen Griebnitzsee und Havel. An der Brücke stand ein Posten, rings um das Örtchen stand die Mauer. „Unsichere Kandidaten“ wurden nach 1961 ins Kernland umgesiedelt, vor allem alte Menschen blieben. Doch auf dem Friedhof wurden nur noch wenige beerdigt. Selten kamen Besucher, und wenn sie kommen wollten, brauchten sie eine Sondergenehmigung. Anfang der 70er-Jahre fiel der Friedhof endgültig in tiefen Schlaf. „Geh, Wanderer, leise über meines Grabes Flur, ich schlafe nur“, steht auf dem Grabstein der Familie Zaar. Derweil griff der Efeu ungestört um sich, wucherten wild Tuja, Ilex und Rhododendron. Nur der Grenzsoldat lief Streife am Ende des Friedhofs, wo für den Bau der Mauer die Kindergräber weichen mussten. Dort liegen noch heute Grabsteine mit ausgewaschener Inschrift und grob behauene Steine – über den Haufen geworfen, der langsam verschwindet unter einer dicken Schicht aus Moos und Blättern.

Nach dem Fall der Mauer verfiel der Friedhof immer schneller. Die Grabräuber kamen. Messingbuchstaben wurden abgebrochen und auf dem Trödelmarkt verhökert. Auch Statuen und Reliefs, Medaillons und Säulen wurden gestohlen. Dort, wo die Königstraße von Zehlendorf kommt und in einem kleinen Rechtsbogen auf die Glienicker Brücke zusteuert, dort, wo rechts im Park von Lenné ein großer Findling steht, geht links ein schmaler Fußweg ab. Nach wenigen Schritten die ersten Gräber. Auf einmal gelangte man auch wieder von der westlichen Seite zum Friedhof. Und während die einen Woolworth plünderten, machten sich die anderen über verwilderte Friedhöfe her.

Dicht bei dem Ahorn liegt Hans Humann unter einer schweren Grabplatte begraben. Gleich daneben die Mutter Louise. Ihr Gatte Carl Humann hatte Pergamon entdeckt, und vielleicht besaß er deshalb viel Gottvertrauen. „Auf dem Grab der Louise hat einmal eine Säule gestanden“, sagt Heinz-Dieter Gödecke, „doch nun ist sie weg.“ Wann die Säule verschwand, lässt sich nicht mehr feststellen. Sicher ist nur das Warum. „Diese Säule aus Pergamon für meine geliebte Frau“, hatte der trauernde Gemahl im Jahre 1928 in den uralten Stein meißeln lassen – und damit ihr Schicksal als künftiger Kunstraub besiegelt.

„Die meisten Bestattungen gab es zwischen 1920 und 1945“, sagt Herr Gödecke. In jenem Zeitraum, in dem die ersten Neubabelsberger Villenbewohner in das Alter kamen, „in dem eben auch Beisetzungen anfielen“, erklärt seine Frau, während er hektisch im Ordner blättert, um zum Beweis die Seite mit der grafischen Statistik zu zeigen. Die blauen Balken summieren den Tod. Kurze Balken: wenig Tote, lange Balken: viele. Tod – für die Mediziner schlicht das Erliegen der vom Zentralnervensystem koordinierten Tätigkeiten der großen Funktionssysteme des Körpers. Tod – für die Angehörigen Leid und Verlust und unendliche Trauer. „A mi dulce y unica Gola“ – „Für meine süße und einzigartige Gola“ steht auf der umgeworfenen Säule. Das obere Ende wirkt abgebrochen, scheinbar unvollendet – aus dem Leben gerissen durch den plötzlichen Tod. Es hätte doch weitergehen müssen, nie enden dürfen – das Leben ist zu früh gestorben. Tempus fugit – die Zeit ist flüchtig –, steht in Stein gemeißelt. Darüber die Sanduhr mit Flügeln. „Lasset uns Gutes thun und nicht müde werden“, hat Wilhelm Carl Christian von Türk der Nachwelt per Grabinschrift mit auf den Weg gegeben. Der „Königl. Preuss. Schulrat“ hatte 1827 das Jagdschloss Glienicke gekauft und darin die erste „Civilwaisenanstalt“ der Region eröffnet. Als „Pestalozzi von Brandenburg“ gelangte er zu einiger Berühmtheit, bis er im Juli 1846 verstarb. Sein Grab ist das älteste, das erhalten blieb. Die Wege sind gefegt, einst rostige Zaunfelder glänzen schwarz übermalt – die Familiengrabstätte ist sauber gepflegt und erinnert an glanzvolle Zeiten. Eines Tages, vor vielen Jahren, bekam die neugotische Kapelle im Dorf eine neue Glocke. Und weil so die alte übrig blieb, bauten ihr die Klein-Glienicker ein kleines Häuschen am Eingang zum Friedhof – aus mächtigen Balken und mit Reet gedeckt – und hängten die alte Glocke hinein. Doch im Krieg braucht man Waffen aus Eisen und Stahl. In den Vierzigern holte man also die neue Glocke aus der Kapelle und schmolz sie ein und brachte die alte zurück. Jetzt war die Hütte übrig. Wenn es regnet, bietet sie leidlich Schutz. Doch wenn es hagelt und stürmt wie an diesem kalten Novembernachmittag, dann hilft auch die Hütte nicht weiter.

Dann raschelt das Laub in der ausladenden Linde, und der Wind entreißt der riesigen Eiche die letzten braunen Blätter. Dann schlagen die Gärtner die Kragen hoch und hauchen in die Hände. Seit zwei Jahren kämpfen fünf ABM-Kräfte gegen Wetter und Verfall – räumen auf, lichten Gestrüpp, legen wieder Wege an und richten verfallene Gräber her. Sie tragen dick wattierte Jacken in Grün und Blau und schwingen die Harke durchs Laub. Heute wird gefegt. Unmengen Blätter wirbeln durch die Luft und auf einen Haufen, rein in die Schubkarre und rüber ins nahe liegende Wäldchen – vorbei an den Gräbern mit Sätzen des Abschieds: „Früh getrennt, doch ewig in Liebe verbunden“ – „Himmelan gehen unsre Bahnen, wir sind Gäste nur auf Erden“.

Warum nur musste Rudy sterben, noch dazu so jung? Als der Junge das Babelsberger Planetarium besuchte, war er die Treppe hinuntergestürzt. Er war gerade drei, da trugen sie seinen Sarg von der Kapelle die holprige Kopfsteinstraße hinauf. Die Glocke hat geläutet, wie immer, wenn jemand unter die Erde kommt. Vorweg ging der Pfarrer, dahinter die Träger mit Sarg und im Anschluss die Trauergemeinde. Die alte Esche kennt die ewig gleiche Prozedur. Sie kommen, die Toten zu beweinen. Doch niemand wird trauern, wenn sie einmal stirbt. Vielleicht kommt ein Tischler und baut einen Sarg aus ihrem alten, knochigen Holz.

Am morgigen Sonntag findet auf dem Alten Friedhof Klein-Glienicke die letzte Führung des Jahres statt. Treffpunkt: 14 Uhr an der Kapelle Klein-Glienicke

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