matthias urbach über Nebenwirkungen: Wer glaubt, wird gesund!
Es gibt jede Menge Fachärzte. Aber wer hat Recht mit seiner Diagnose? Und warum? Eine Odyssee
„Die Theorie bestimmt, was wir beobachten.“ (Albert Einstein)
Ich bekenne, ich war vom Glauben erfüllt. Ich glaubte an weiße Götter in klinisch sauberen OPs. Ich glaubte an hochauflösende Kernspintomografen, an lebensrettende Injektionen. Wo sonst kann der Mensch so tiefe Einblicke in Leben, Tod und das Universum erfahren wie beim Arzt? Und das auf Rezept?
Der Zweifel kam langsam.
Er begann mit einem leichten Ziehen. Rechts in der Leistengegend, dort, wo man die Schlüssel in der Hosentasche spürt. Erst zog es nur gelegentlich, schließlich hörte es nicht mehr auf.
Ich denke an einen Leistenbruch. Am besten direkt zum Spezialisten! Nur: Zu wem? Zum Orthopäden? Ist doch kein Knochen, die Leiste. Oder?
„Womit kann ich dir helfen?“ Mein praktischer Arzt, ein gemütlicher Kerl, empfängt mich mit einem Lächeln. Ich gestehe, ich mag ihn. Nur zweifele ich an seiner Kompetenz. Was kann ein Gott taugen, der einen duzt?
Er drückt mit zwei Fingern auf dem Schmerz herum. „Vielleicht ein Leistenbruch?“, frage ich. „Möglich“, sagt er. „Das müssen wir ausschließen.“ Und schickt mich zur Orthopädin.
Draußen plagt mich der Gedanke, ihn selbst auf die Diagnose gebracht zu haben. Wer ist eigentlich der Doktor? Er oder ich? Ich tröste mich mit der Aussicht auf die ranghöhere Gottheit.
Die sitzt in einem fein getäfelten Untersuchungszimmer. „Nein, nein, kein Leistenbruch“, urteilt meine Orthopädin. „Bloß eine Prellung.“ Mir kommt die Diagnose etwas trivial vor. Aber ich habe knapp eine Stunde für diesen Befund im Wartezimmer ausgeharrt: Die Frau muss gut sein. Mit einer Salbe gehe ich zufrieden nach Hause.
Zwei Wochen später sitze ich wieder bei ihr. Inzwischen trage ich mein Schlüsselbund nicht mehr in der Hosentasche. „So, so“, sagt meine Orthopädin ungerührt. „Wir sollten eine urologische Ursache ausschließen.“
Welch Offenbarung! Man kann da also was Urologisches haben. Die Wege der Heilung sind unergründlich.
„Die Prostata. Eindeutig.“ Man hatte mir den Urologen empfohlen. Aber ich spüre Widerwillen: Prostata? War das nicht was für alte Männer? „Sie glauben gar nicht, was diese kleine Drüse alles anrichten kann. Ihre ist übrigens vergrößert.“ Die Diagnose verschlägt mir die Sprache. Er sieht mich ungerührt an: „Das kommt schon mal vor.“
Vier Wochen und achtzig pflanzliche Dragees später zieht es immer noch in der Leistengegend. Inzwischen trage ich extraweite Bundfaltenhosen – und fühle mich alt. Mein Urologe schickt mich mit geschrumpfter Prostata zur Orthopädin zurück. Zum Teufel mit ihnen!
Eine Koryphäe muss her. Zwei Wochen lang quetsche ich jeden, den ich antreffe, nach guten Ärzten aus. Schließlich preist mir Ralf seinen Sportarzt an: „Begnadete Hände.“ Der Gelenkspezialist ist nebenbei Mannschaftsarzt des örtlichen Fußballclubs.
Die Behandlungsdauer in einer deutschen Arztpraxis ist umgekehrt proportional zur Wartezeit. Beim Sportarzt muss man „zwei Stunden Zeit mitbringen“, verlangt seine Arzthelferin.
Endlich darf ich in eines der winzigen Behandlungszimmer. Den Arzt kriege ich nicht zu sehen, erst werde ich „vorbereitet“. Die Helferin fragt nach meinen Beschwerden, weist mich an, mich „schon mal frei zu machen“. Sorgfältig breitet sie Papier über die Behandlungsbank, zupft es noch einmal zurecht. Als ich liege, fühle ich mich wie ein Schaf auf dem Opfertisch.
Schließlich erscheint die Gelenkkoryphäe, ja erfüllt das Kabuff, und legt die Hand auf meine Hüfte. Mit der anderen packt der Experte mein Bein und hebt es kurz an. „Das Hüftgelenk“, sagt er, ohne meine Blicke zu erwidern. „Sabine!“ Die junge Helferin greift zum Stift. „Da machen wir eine Serie Eis und Sinus.“ Weg ist er.
Was soll ich sagen: Acht Therapietermine später bin ich beschwerdefrei.
Und deprimiert. Wie konnte es kommen, dass vier Ärzte auf dieselben Symptome vier verschiedene Krankheiten diagnostizieren? Wer hatte nun Recht? Ist mein Sportarzt der eine, der wahre Gott? Hatte vielleicht keiner Recht? Hatte mein Körper nur lange genug Zeit, sich selbst zu heilen?
Jörn, einen alten Studienkumpel, wundert das nicht: „Selektive Wahrnehmung.“ Ich kann ihm nicht folgen. „Stell dir vor, du lässt dir Essen kochen und hast vier Zutaten: Kartoffeln, Schweinefleisch, Tomaten und Sahne. Wenn du zum Italiener gehst, kriegst du Gnocchi mit gebratenem Schwein und Tomatensahnesoße. Gehst du zum Schweizer, kriegst du Geschnetzeltes mit Rösti und Tomatensalat.“
Jörn versteht nichts vom Kochen, aber sein Argument besticht. Lebt also jeder der Ärzte in seinem eigenen Universum? Kann ein Urologe wirklich nur eine Erkrankung der Harnwege diagnostizieren, der Sportarzt nur Gelenkschäden?
Zu viele Fragen töten jeden wahren Glauben.
Schwamm drüber. Eigentlich ist es ja simpel: Man spüre in seinen Körper hinein und ergründe, was einem fehlt. Dann suche man im Telefonbuch den zuständigen Spezialisten heraus. Mit etwas Glück verschreibt der einem die passende Arznei. Dazu muss man allerdings ganz fest glauben – an sich selbst.
Fragen zu Nebenwirkungen?kolumne@taz.de
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