Über die Orientierung der zweiten Migranten-Generation an muslimischen Verhaltensmustern ■ Von Frank Meng: „Ohne Islam sind wir nichts“
Die Bedingungen für einen sachlichen Dialog zwischen der nicht-islamischen Bevölkerungsmehrheit und den Muslimen sind seit dem 11. September schwieriger geworden. Den Bemühungen der Muslime um Vertrauen und Integration wird noch mißtrauischer begegnet als zuvor.
Für uns in Bremen mit schätzungsweise 40.000 Muslimen gibt es zum Dialog und zur Integration gar keine Alternative, wenn uns die Ansprüche dieser Gesellschaft auf Freiheit Gleichheit und Pluralismus ernst sind. Der Dialog zwischen den Religionen und zwischen Islam und der Politik ist in Bremen weitgehend geprägt von gegenseitiger Achtung und der Bereitschaft zur Integration.
Die Dialogform in Bremen zeigt, dass die Öffnung der Gesellschaft für die Ansprüche der Muslime ihren Islam verändert und offener gemacht hat. Umgekehrt gilt, dass eine kategorische Ablehnung der Ansprüche auf kulturelle Integration die Muslime von dieser Gesellschaft entfernen wird, was erst recht vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklungen niemand wünschen kann.
Für den Dialog mit in Deutschland aufgewachsenen Muslimen erscheint grundlegend, dass es „den Islam“ nicht gibt.
Der Islamwissenschaftler Lorenz Müller begründet dies in einem Aufsatz über die Menschenrechts-Debatte im Islam so:
„Den Islam gibt es nicht. Der Islam [...] ist weder ein statisches System noch ein monolithischer Block. Das versteht sich von selbst, wenn man sich die lange und wechselvolle Geschichte dieser Religion sowie ihre geographische Ausbreitung und die damit verbundene Vielfalt der Bedingungen, unter denen die ge- und erlebt wird, vergegenwärtigt. [...] Dies führt dazu, daß selbst über Grundlagen heftig gestritten wird. [...] Und auch wenn man die Untersuchung [...] auf den sunnitisch-arabischen Islam beschränkt, ist das Untersuchungsfeld noch so groß, daß es unmöglich ist, die Vielzahl der vertretenen Positionen auch nur annähernd zu erfassen.“
Demnach hängt die Gestalt des Islam, sein Selbstverständnis, immer von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Bei einer offenen Haltung gegenüber Muslimen wird er eine andere Gestalt annehmen als bei einer ablehnenden Haltung. Demzufolge kann der Islam und das Selbstverständnis der Muslime von Stadt zu Stadt unterschiedlich sein.
Ein zweiter hier wichtiger Aspekt betrifft die Lebenslagen der Muslime in der Generationenfolge. Die jungen Muslime sind anders als ihre Eltern in Deutschland geprägt, haben hier ihren Lebensmittelpunkt. Sie haben deshalb einen selbstverständlicheren Anspruch auf Gleichbehandlung und Anerkennung. Auch sind sie in Sachen Bildung und Sprache gegenüber ihren Eltern im Vorteil. Vor allem müssen sie in einem pluralen Umfeld ihr Verhältnis zur Religion, ihr Selbstverständnis selbst definieren und begründen. Die Schule ist dabei eine wichtiger Ort. Ihren Interessen und Ansprüchen wird nicht automatisch entsprochen. Die Begründung der eigenen Position ist die Grundlage für Anerkennung und die Diskussion der persönlichen Ansprüche (Kopftuch tragen, Freistellung vom Sportunterricht usw.). Grundlegend für die Möglichkeit der Durchsetzung islamischer Ansprüche ist daher eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Islam und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
Junge Muslime in den Moscheegemeinden tun genau dies. Sie setzen sich vor dem Hintergrund ihrer Lebensbedingungen mit dem Islam neu auseinander. Dies erfahren sie als einen Gestaltungsspielraum für ihre Persönlichkeit. Ein 25jähriger Anhänger der Islamischen Föderation, selbständiger Ableger der europaweit organisierten Milli Görüs, beschreibt diese Freiheit folgendermaßen:
„Wie wir sehen, ist der Islam sehr flexibel. In Malaysia ist der Islam anders, in der Türkei ist er anders und in Europa wird er anders sein. Und wir sind halt diejenigen, die halt die ersten Formen des Islam hier in Europa entwickeln. Und das ist für mich auch die Chance, selber mitzuwirken, was der Islam für die kommende Generation sein wird. Denn der Islam wird nicht das sein, was die erste Generation uns mitgegeben hat. Und die intellektuelle Seite war leider, die Bedingungen waren ja nicht gegeben in der ersten Generation, dass das ausgeprägt war. Aber durch die zweite Generation wird sich etwas Geistiges entwickeln und das ist das Kostbare, das besondere daran.“
Von den jungen Muslimen werden in der modernen Gesellschaft neue islamische Lebensformen, Selbstverständnisse und Ansprüche in einem intellektuellen Prozess entwickelt.
Diese selbständige und intellektuelle Auseinandersetzung ist mit einem verbreiteten Bild über junge organisierte Muslime kaum vereinbar. Wie viele muslimische Jugendliche aber fühlen sich den islamischen Verbänden überhaupt zugehörig? Nach einer von uns durchgeführten Befragung mit Schulabsolventen von 1989 dürften im Land Bremen gut 20 Prozent der zweiten Generation türkischer Herkunft sunnitischen Verbänden nahe sein. Weitere gut 10 Prozent sympathisieren mit dem Alevitischen Verein. Gut zwei Drittel haben keine Nähe zu islamischen Organisationen. Sie befinden sich noch in einem Klärungsprozess darüber, ob sie sich dem Islam zuordnen oder eine eigenständige kulturelle Minderheit bilden.
Bei der Beschreibung jüngerer Anhänger der Verbände begibt sich auch die Wissenschaft oft ins Reich der Spekulation. Ohne empirische Grundlage werden Einzelfälle verallgemeinert. So findet sich beispielsweise in der Untersuchung “Verlockender Fundamentalismus“ des Bielefelder Jugendforschers Wilhelm Heitmeyer als Einführung ein Artikel, in dem folgender Jugendlicher beschrieben wird:
,Cemal ist zweiundzwanzig und seit zwei Jahren ein gläubiger Muslim. Wenn er von seiner Vergangenheit erzählt, malt er in düsteren Farben: „Mein Leben war Dreck, Spielhallen waren mein Zuhause, ich liebte Alkohol und deutsche Mädchen.“ Jetzt fühlt er sich geläutert und glaubt an die Überlegenheit des Islam. [...] Weil sein türkischer Schulabschluss nicht anerkannt wurde, jobbt er in einem türkischen Schnellimbiss, bei Türstehern „deutscher“ Diskotheken kam er nie durch die Gesichtskontrolle. „Ohne Islam sind wir nichts“, sagt Cemal. [...] Er raucht Marlboro wie seine Kumpeöl und kleidet sich modisch. Doch in seinem Kopf nistet heiliger Zorn. „Nur der Islam verschafft uns Recht, und wer gegen den Islam kämpft, der wird sterben, er stellt sich gegen Allah.“ Von Feinden glauben sich die Radikalen unter den Anhängern von Milli Görüs geradezu umzingelt: US-Imperialismus, Zionismus, aber auch deutsche Ämter und die Arbeiterwohlfahrt. Die Agenten dieser „menschenfeindlichen Organisationen“ warnt ein Flugblatt [...] entrissen die Kinder ihren Eltern, zwängen sie in Heime und lockten sie in die Prostitution. Sie wittern Heroinhöhlen und „Herbergen für Lesbierinnen“ unter der Obhut der Bezirksämter. Ihr Wissen über Kontakte zwischen Lehrer und Schüler haben sie, so scheint es, aus dem Schulmädchenreport der privaten Spätprogramme.“ (Frank/Kruse/Willeke 1997:16f.)
Wie werden junge Milli Görüs-Anhänger in dieser Beschreibung dargestellt? Modernisierungsverlierer ohne Bildung und berufliche Perspektive, ethnisch diskriminiert und ohne Halt. Bei Milli Görüs angekommen, würden sie indoktriniert gegen ihre Vergangenheit und die westliche Kultur. Ihnen werden Überlegenheitsgefühle und Gewaltbereitschaft für den Islam bescheinigt. Der Orientierungslosigkeit folge also die totale Entfremdung von der Gesellschaft durch die Propaganda der Milli Görüs.
Nun eine andere Beschreibung der jungen islamischen Bewegung, zu der auch Milli Görüs gehört, von Emir Ali Sag:
,Seit den achtziger Jahren ist zu beobachten, daß sich die soziale Zusammensetzung der islamischen Bewegung gewandelt hat. Es sind nicht mehr Jugendliche der untersten Gesellschaftsschichten sowie Jugendliche, die in dieser Gesellschaft keine Perspektive haben oder als Randgruppen bezeichnet werden. Es sind junge Menschen, die beste Voraussetzungen für einen sozialen Aufstieg besitzen, und Vertreter der Mittelschicht, die sich in Deutschland ökonomisch verselbständigt bzw. verankert hat. Genau diese junge neue Schicht [...] prägt die Form und Qualität der Auseinandersetzung mit der Mehrheitsgesellschaft, die auf einem intellektuellen Niveau stattfindet.“
Unterschiedlicher könnte dieses genauso stereotype Bild nicht sein. Nun sind die organisierten Muslime plötzlich Modernisierungsgewinner‘, eine junge Mittelschicht mit besten Perspektiven, aufstrebende Intellektuelle, die eigenständig (also nicht indoktriniert) den Integrationsdiskurs führen, sich nicht abwenden, den Dialog suchen. In unseren Gesprächen mit organisierten Muslimen im Forschungsprojekt haben wir diese Vorstellung auch angetroffen. Sie sprechen sich Orientierung, sozialen Ehrgeiz und Bereitschaft zur Mitarbeit zu, anderen Migranten dagegen häufig ab.
Mit austauschbaren Inhalten findet sich immer wieder dieses dichotome Bild, in dem organisierte Muslime unter allen möglichen Aspekten ganz anders seien als andere Migranten. Die Ergebnisse unserer schriftlichen Befragung sind weniger spektakulär. Demnach unterscheiden sich organisierte Muslime in sozialer und ökonomischer Hinsicht ebenso wie in ihrem Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Gesellschaft praktisch nicht von anderen Migranten.
Ihren Lebensmittelpunkt verorten die organisierten Muslime eindeutig in Deutschland. Auch fühlen sie sich ihrem Lebensort in hohem Maße zugehörig. Auffällig ist aber auch, dass sie sich stärker als andere mit der Türkei identifizieren. Das schlägt sich auch darin nieder, dass sie türkische Medien stärker nutzen und seltener die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben als andere.
Ihre emotionale Nähe zur Türkei hat mehrere Gründe. Die Moscheevereine sind oft eng verbunden mit türkischen Organisationen, man könnte sie mit Thomas Faist als „transstaatliche Räume“ beschreiben. Dort liegen türkische Zeitungen aus, läuft türkisches Fernsehen. Die Bindung wird auch dadurch gestärkt, dass die religiösen Muslime häufig mit anderen Muslimen verkehren, die ebenfalls einen türkischen Hintergrund haben. Sie verkehren damit stärker innerhalb der ethnischen Kolonie.
Gerade die Beziehungen zu anderen ethnischen Gruppen sind bei den organisierten Muslimen jedoch schon in der Kindheit schwach ausgeprägt. Offensichtlich wurden sie schon von den Eltern häufig auf türkische Muslime hin orientiert.
Von daher ist die Frage nach den Eltern, ihrer Religiosität und ihren Erziehungsstilen zu stellen. Dabei zeigt sich, dass die Eltern der von uns befragten organisierten Muslime ausgesprochen religiös sind, dass ihnen ihre türkische Herkunft sehr wichtig ist und dass sie fast immer den gleichen islamischen Verbänden nahestehen wie ihre Kinder.
Damit wachsen die organisierten Muslime der zweiten Generation fast durchweg schon in früher Kindheit über ihre Eltern in die Moscheevereine und Verbände hinein. Die Entscheidung für ein religiöses Leben in den islamischen Gemeinden mag im Zuge der Persönlichkeitsentwicklung während der Pubertät fallen und mit kulturellen Orientierungsproblemen zusammenhängen. Der Zugang zur Religion und zum Moscheeleben besteht zu diesem Zeitpunkt aber längst. Neuzugänge sind im Moscheeleben dagegen selten. fff Wie schlägt sich die Bindung der Eltern an die Religion und das Gemeindeleben auf die Erziehung ihrer Kinder nieder?
Faktisch gewährten die Eltern den organisierten Muslimen in der Jugend kaum Freiräume. Grundlegend dürften ihre religiösen Ansprüche gewesen sein. Westliche Lebensweisen wie voreheliche Sexualkontakte und Alkoholkonsum, beides nach dem Islam verboten, empfanden die Eltern als Bedrohung, vor der sie ihre Kinder schützen wollten. Mit den Verboten der Eltern belegt, konnten sie sich kaum positiv definieren, solange sie sich in ihrem Selbstverständnis die Ansprüche der deutschen Jugendlichen zu eigen machen. Eine Interviewpartnerin, Sympathisantin der Islamischen Föderation Bremen, beschreibt das Problem fehlender Möglichkeiten zur Teilhabe und ihre Entscheidung für die Religion so:
„Das war in der elften Klasse. Ich war irgendwie damals so ein bisschen unzufrieden mit meiner Situation. Da fing mir an, vieles bewusst zu werden. Also dieses Aufwachsen zwischen zwei Kulturen und dass man sich immer ein bisschen minderwertig gefühlt hat den Deutschen gegenüber. Ich hatte zwar meine deutschen Freundinnen, aber ich konnte halt immer nur begrenzt etwas mit denen unternehmen. Das hatte halt alles seine Grenzen, abends dann nicht mehr und dann zu bestimmten Orten sowieso nicht, wie Disko oder so. Das waren dann halt Sachen, die ich natürlich nicht durfte. Ja und dann hab ich angefangen, sehr viel islamische Bücher zu lesen. Ich bin dann so auf die Religion gekommen, also hab die Religion dann so für mich entdeckt und dachte so, das ist jetzt halt für mich der Sinn meines Lebens, also dafür lohnt es sich auch zu leben. Und so konnte ich dann auch sehr viele Minderwertigkeitskomplexe abbauen, denn ja, was den Islam angeht, da wird kein Unterschied gemacht zwischen verschiedenen Nationalitäten. So habe ich dann irgendwie ein bisschen zu mir gefunden, denn vor allen Dingen in der Pubertät ist das ja so, dass die Jugendlichen dann wirklich auf der Suche sind, auf der Suche halt nach ihrer Identität und ja, ich hab meine Identität dann halt in der Religion gefunden damals in der elften Klasse.“
Das für die Integration grundlegende Gefühl der Gleichwertigkeit mit anderen kann wegen der Einschränkungen durch die Eltern und der Erwartungen des schulischen Umfeldes nicht erlangt werden. Mit dem Bezug auf den Islam befreien sie sich aus dem Klammergriff der kulturellen Erwartungen.
Dabei wird nicht einfach der Islam der Eltern übernommen, in den sie hineinwuchsen.
Ihr Islam ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit den Glaubensgrundlagen, dem eine bewusste Entscheidung für die Religion folgt. Bei der Interpretation der Glaubensgrundlagen haben sie deshalb einen Vorsprung gegenüber den Eltern. Deren religiöse Autorität können sie in Frage stellen und auf ihrer Interpretation und damit verbundenen Lebensweisen bestehen.
Die Inhalte der Interpretationen selbst, die damit verbundenen Konflikte, Chancen und Ansprüche sind getragen von dem Wunsch nach Anerkennung sowohl vom Elternhaus als auch von der Gesellschaft. Versagt ihnen die Gesellschaft grundsätzlich die Anerkennung ihrer islamischen und ethnischen Identität, so wird das unmittelbaren Einfluss auf die Interpretationen ausüben.
Unserer Befragung hinsichtlich der Ausgrenzungserfahrungen in der Schule und beim Übergang in die Arbeitswelt der organisierten Muslime haben folgendes ergeben: Jeweils ein Drittel der organisierten Muslime gibt an, wegen ihrer ethnischen Herkunft von Mitschülern und Lehrern benachteiligt bzw. ignoriert worden zu sein. Die Anteile sind deutlich höher als bei der Vergleichsgruppe. Noch problematischer sind die Erfahrungen beim Übergang in die Arbeitswelt. Hier meinen über die Hälfte der organisierten Muslime und ein Viertel der anderen, erstmalig erlebt zu haben, dass ihnen als Angehörige einer ethnischen und religiösen Minderheit weniger Chancen eingeräumt worden seien.
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