: Nur keine Schwellenangst
Pufferküsser laufen Strecken ab, animieren Lokführer zum Rasen, mischen sich bei Reisen anderer ein und sind immer schlauer als das Personal der Bahn: Auch für unseren Autor sind es vor allem die Schienen, die einen großen Teil der Welt bedeuten
von ANDREAS BECKER
Es gibt kaum etwas Schöneres, als auf stillgelegten S-Bahn-Gleisen spazieren zu gehen. Vor 1989 konnte man sich bei vielen zugewachsenen Strecken kaum vorstellen, dass sie je wieder in Betrieb gehen würden. Kurz vorm 9. November 1989 standen wir auf dem südlichen S-Bahn-Damm in Neukölln, nahe dem verfallenen Bahnhof Köllnische Heide. Es war wohl am 4. November, als in Ostberlin die große Demo stattfand. Vom S-Bahn-Gleis aus konnte man prima mitten in den Grenzstreifen spähen. Irgendwie hatten wir das Gefühl, die Atmosphäre im Grenzstreifen sei anders als sonst, was uns spinnert erschien.
Schon einige Wochen später dann fing die Planung im Kopf an. Welche Strecke war eigentlich im Osten, wo fuhren die Züge hin, was gab es für Anschlussmöglichkeiten? Im nördlichen Abzweig in Neukölln an der Mauer hatten wir sogar die Durchfahrt der Züge kurz vor Treptower Park beobachten können. Es war natürlich toll, auf dieser Strecke dann selbst einmal zu fahren und die Hochhäuser Höhe Bahnhof Plänterwald von Osten aus zu sehen. Auch im damaligen rot-grünen Senat gab es einige Spinner, die doch tatsächlich meinten, man könne die Gleise innerhalb kürzester Zeit „wiedervereinigen“. Für den Südring gab es damals schon Pläne. Wenn die fiesen Autobahnideen in Neukölln Realität geworden wären, hätte man den Ring nie wieder aufbauen können. Miese Autolobbyisten wollten die Autobahn, die seit einem Jahr scheinbar friedlich unter einem Park hindurchfließt, genau in den S-Bahn-Graben legen. Noch heute kann man entlang der Neuköllner Strecke rumlaufen. Kennen muss man nur die Löcher in Zäunen und die Zeiten, zu denen auf den Gütergleisen nichts rollt. Vor kurzem habe ich an dem großen Schutthaufen über der Kiefholzstraße neben der Recyclinganlage sogar einen Fuchs gesehen. Manchmal stehen auf den Gleisen Container. Auf Zetteln an den rostigen Gittern kann man den Weg der Waggons ablesen. Ein Container von Ikea, unterwegs von Schweden nach Italien, stand zwei Wochen auf dem Abstellgleis. Sofas verderben ja nicht.
Die Gleise hier sind teilweise schon etwas älter. Wenn sie nicht zu rostig sind, kann man an der Schiene das Herstellungsdatum ablesen. Bei Betonschwellen ist das Herstellungsjahr eingeprägt. In Neukölln oder vorm Gleisdreieck liegen sogar noch Stahlschwellen unter den Weichen, Herstellungsjahr 1954. Stahlschwellen sind toll. Betonschwellen der DDR sind ein Problem für Eisenbahner, eine Art Ost-Schwellenangst ging nach 89 um. Die DDR hat ihren besten Zement gegen Devisen nach Westen exportiert. Für die eigenen Eisenbahnstrecken benutzte man qualitativ minderwertigen Zement. Die Ostschwellen gaben schon kurz nach der Wende unter den neuen Anforderungen nach. Sie bröseln unter schweren Zügen weg wie Sand. Die traurigen Reste dieser doofen Zementsparmaßnahme sind in Form von Schwellenbergen in Hohenschönhausen neben dem Außenring zu besichtigen. Die Betonhäckselmaschine hat hier schon Millionen Ostschwellen zu Schotter gemacht.
Zurzeit ist die interessanteste S-Bahn-Baustelle die Verbindung zwischen Gesundbrunnen und Westhafen. Noch vor zwei Jahren herrschten auf dem Großteil des Abschnitts vom Nordring die Gesetze des Dschungels. Alles war zugewachsen. Nicht mal ein Trampelpfad existierte. Die Entdeckungen aus dieser Perspektive waren umso aufregender. Leute wohnen idyllisch zwischen halben Schornsteinen und eingekrachten Fabriken.
Das große Schering-Gelände ist vom Bahndamm aus gesehen fast noch hässlicher als von der Straße. Kühltürme verdampfen die Reste der Pillenproduktion. Etwa beim alten, bald neuen S-Bahnhof Wedding sieht man den leer stehenden Saal des Sputnik-Kinos, der Schering gehört. Bis vor kurzem hing zur Straße hin noch das schöne Sputnik-Neonschild. Hier stehen plötzlich kaum noch Bäume. Sogar die Böschungen sind von den Fälltrupps heimgesucht worden. Betonspundwände statt Kastanien bestimmen jetzt das Bild. Durch die Verbreiterung des Schienenabstands und breitere Kabelschächte braucht die Bahn heute mehr Platz. Auch wenn der Bahndamm nur einen knappen Meter breiter wird, das Grün verschwindet. Bäume sind zu bekämpfende Gegner, die das Lichtraumprofil einschränken. Pufferküsser nennt der Volksmund die Männer, die sich fast pathologisch für unterschiedliche Aspekte des Bahnwesens begeistern. Manche Trainspotter filmen jeden Zug, der an ihrem Bahnhof einläuft, katalogisieren ihn und vermerken genaue Ankunfts- bzw. Verspätungszeit. In England gibt es sogar Planespotter. Einige von denen sitzen seit einiger Zeit in Athen in Haft, weil sie für Spione gehalten wurden.
Der gemeine Zugbeobachter aber ist meist Fahrplanfreak. Wer mich fragt, wann der nächste Zug nach Hannover verkehrt, wird immer eine Antwort erhalten: Leider gibt der Pufferküsser nicht nur neutral Auskunft, er mischt sich exzessiv auch in die Gestaltung der Fahrt des „Kunden“ ein. Sagt ihm einer, er wolle mit dem ICE nach Bremen fahren, wird er ihm raten, (bis 20 Uhr) das nicht zu tun – zu langsam. Will der dann den direkten IR nehmen, wird ebenfalls ein Veto eingelegt. Will jemand über Hamburg fahren, wird es ganz ernst, denn da verpasst der Reisende um nur wenige Minuten seinen IC-Anschluss – obwohl der IC natürlich locker schneller sein könnte (siehe ICE nach HH). Nur der IR über Hannover mit Umsteigen bietet die schnellste, kürzeste, leider aber bis vor kurzem nicht billigste Verbindung.
Nicht immer ist die kürzeste auch die schnellste Verbindung – das weiß schon Joachim Król in „Einmal nach Inari“. Der verliert den Wettbewerb der Fahrplanleser nur, weil er sich in eine Frau verliebt hat, die an einer Umwegstrecke nach Inari wohnt. Wer freiwillig Umwege fährt, ist entweder wahnsinnig, verliebt oder selbst Pufferküsser – will also nicht „fortkommen“, sondern die Strecke inspizieren. Ich zum Beispiel werde irgendwann unauffällig in Stendal aus dem IR nach Hannover steigen (der steht da übrigens immer mindestens 10 Minuten, prima Pause, um im Bahnhof Kaffee zu organisieren) und werde mit der Regionalbahn über die wieder aufgebaute „Amerikalinie“ über Salzwedel und Uelzen nach Bremen fahren.
Vielleicht nehme ich dafür auch den linientechnisch völlig durchgeknallten IC Wawel über Potsdam (!), Stendal nach Hamburg, optionales Umsteigen in Uelzen mit Hundertwasser-Bahnhofs-Besichtigung. Kann man aber nur im Sommer machen, wenn man den Ausbaustandard der Strecke beurteilen will – der Zug fährt nur abends.
Ganz schlimm wird es, wenn man mit solchem Insiderwissen Fahrkarten kaufen will. Konflikte mit dem Personal sind vorprogrammiert. Bis vor kurzem hat die Bahn, die ja für Umwege mehr Geld nimmt, weil sie immer noch archaisch nach Strecke und nicht nach Zeit abrechnet, einfach die Leute auf dem IR-Weg nach Hannover betrogen. Fast jeder, der nicht ausdrücklich sagte, er fahre über Stendal und Wolfsburg, bezahlte die Umwegstrecke über Magdeburg, immerhin acht Mark mehr. Diese Regelung führte man mit Eröffnung der Schnellstrecke ein, um nicht die Preise senken zu müssen.
Ob Pufferküsser anal, oral oder bahnal gestört sind, ist unklar. Ich habe es übrigens schon mal geschafft einen Lokführer zu mehr Tempo zu überreden, um einen Anschluss in Hannover zu kriegen. Das hat tatsächlich geklappt, obwohl es mehrere Baustellen gab. Ich habe allerdings auch schon einen Lokführer erlebt, der aus Versehen durch einen fahrplanmäßigen Haltebahnhof durchgerast ist.
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