: Von Danzig bis Berlin
Vor zwanzig Jahren wurde über Polen das Kriegsrecht verhängt. In Berlin wurden die Flüchtlinge als „Helden der Solidarność“ empfangen. Ein neuer Migrationszyklus von Ost nach West hatte begonnen
von UWE RADA
„Liebe polnische Gäste, ob als Gast oder auf Dauer als Mitbürger – Sie sollen sich in unserer Stadt zurechtfinden und wohlfühlen.“ (Ulf Fink, CDU)
Selten wurden Ausländer in Westberlin so herzlich begrüßt. Doch die „Gäste“ und „Mitbürger“, die der damalige CDU-Sozialsenator Ulf Fink 1982 mit einem zweisprachigen Flugblatt empfing, waren keine gewöhnlichen Ausländer.
Die Streiks auf der Leninwerft in Danzig, die Gründung der Solidarność als erster unabhängiger Gewerkschaft im Ostblock sowie die katastrophale Wirtschafts- und Versorgungslage in Polen hatten die Westberliner zu einer beispiellosen Welle der Hilfsbereitschaft veranlasst. Im Europa des kalten Krieges demonstrierte man in Westberlin grenzüberschreitende Solidarität – und empfing die polnischen Flüchtlinge und Migranten als „Helden der Solidarność“.
Kurz zuvor, am 13. Dezember 1981, hatte der polnische Staatschef General Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht ausgerufen. In Danzig, Warschau und anderen Städten fuhren die Panzer auf. Das Land stand unter Schock. Die DDR hatte bereits die Grenze zu Polen dichtgemacht. In Westberlin begann man wieder, Pakete zu packen. Europa war weit weg.
Und Europa rückte zusammen. Zwar hatte Jaruzelski in einer Fernsehansprache am Morgen des 13. Dezember an die „gesunden Tendenzen innerhalb der Solidarność“ appelliert, die Ausrufung des Kriegsrechts zu verstehen und gewiss zu sein, dass er und seine Junta die Ordnung im Lande wiederherstellen wollten.
Doch der Appell blieb unerhört. Viele der Solidarność-Aktivisten gingen in den Untergrund, andere wurden verhaftet und wiederum andere begannen, das Land zu verlassen. Mit dem 13. Dezember 1981 wurde nicht nur ein neues Kapitel in der europäischen Geschichte aufgeschlagen. Es begann auch ein neuer Migrationszyklus von Osteuropa in den Westen. Noch heute leben über 30.000 Polen, die in den achtziger Jahren ihr Land verlassen mussten, in Berlin. Aufgrund einer Bestimmung des Alliierten Kontrollrats war Westberlin für sie die einzige westeuropäische Stadt, in die sie visafrei einreisen konnten. Und auch willkommen waren – nicht nur als „Helden der Solidarność“, sondern auch als neue Arbeitskräfte in einer Stadt, die zwar „Schaufenster des Westens“ sein wollte, aber wegen des Brain-Drains in Richtung Westdeutschland nicht mehr wusste, wer in diesem Schaufenster für die nötige Dekoration sorgen sollte.
„Witamy w Berlinie. Gazeta taz serdecznie wita przybyszów z Polski“ (taz)
„Willkommen in Berlin. Die Tageszeitung begrüßt die Besucher aus Polen.“ Dass es im März 1989, acht Jahre nach der Verhängung des Kriegsrechts, die taz war, die diesmal die polnischen Besucher willkommen hieß, war kein Zufall. Das offizielle Berlin hatte inzwischen andere Töne angeschlagen, zum Beispiel den des damaligen CDU-Generalsekretärs Klaus Landowsky. Landowsky sprach im Zusammenhang mit den polnischen Berlinbesuchern ganz unverblümt von „Hunderttausenden von Einkaufstouristen pro Woche, unhaltbaren hygienischen Zuständen und Schwarzhandel“. Selbst in der Alternativen Liste ging man auf Distanz zu den Polen, und nur selten versteckte man die Ressentiments gegenüber den östlichen Touristen hinter gut gemeinten Warnungen wie der vor einem Entstehen „polnischer Slums in Berlin“.
Was war passiert? Wie konnte sich die Stimmung gegenüber den Zuwanderern und Besuchern aus Polen binnen weniger Jahre so ändern?
Im Januar 1989 hatte General Jaruzelski, schon am Ende seiner Macht, die Grenzen des Landes geöffnet. Seitdem kamen Woche für Woche Zehntausende von Polen nach Westberlin und verwandelten den Potsdamer Platz quasi über Nacht in einen „Polenmarkt“. Was für die polnischen Händler angesichts der wirtschaftlichen Krise ihres Landes und eines Durchschnittslohns von 40 Mark pro Monat dem schieren Hang zum Überleben geschuldet war, erregte in Westberlin die Gemüter all derer, die ihrer Stadt eine andere Zukunft wünschten als die einer Grenzstadt zur Armut. Die Westberliner CDU demonstrierte plötzlich in trauter Eintracht mit den rechtsextremen Republikanern Sorge um den Fortbestand des Abendlandes und belebte die „deutsche Leitkultur“ um Reime wie diesen: „Kommst du aus Polen immerzu, das Gesetz drückt beide Augen zu.“
Dass die Stimmung gegenüber den Polen umgekippt war, lag aber nicht nur an den Händlern vom Polenmarkt oder den Schlange stehenden Polen vor den Import-Export-Geschäften in der Kantstraße. Polen in Berlin, das war zunehmend auch ein Hinweis auf die Osteuropäisierung einer Stadt, die lange mit der Illusion gelebt hatte, mit Hamburg und München mehr gemein zu haben als mit Łódż oder Warschau.
Nun aber zeigte sich, dass Berlin sich plötzlich in östlicher Geografie wiederfand, oder aber selbst östlich wurde. In den Achtzigerjahren waren auch über 100.000 Spätaussiedler nach Westberlin gekommen, die meisten von ihnen aus Schlesien und dem Ermland. Auch bei dieser zweiten Phase der polnischen Migration seit 1981 war die Verhängung des Kriegsrechts neben der Versorgungslage in Polen ein Auslöser gewesen.
Doch auch im Westteil Berlins hatte sich inzwischen nicht nur die Stimmung geändert, sondern auch die wirtschaftliche Situation. Zeigte sich Sozialsenator Ulf Fink noch 1987 davon überzeugt, dass Berlin aus arbeits- und bevölkerungspolitischen Gründen ein Interesse „an einer Polen-Zuwanderung auf Dauer“ habe, machte schon zwei Jahre später das Wort vom „vollen Boot“ die Runde. Angesichts einer „neuen Wohnungsnot“ und der erwarteten Zuwanderung weiterer Aussiedler forderte selbst die AL eine Begrenzung der Einwanderungsquoten.
„Der Berliner Bevölkerung sind Belästigungen von bis zu 100.000 Polen-Besuchern am Wochenende nicht zuzumuten, die mit unendlich viel Schmutz in bestimmten Stadtteilen einhergehen.“ (Dieter Heckelmann, CDU)
Es herrschte eine beinahe kollektive Hysterie vor dem 8. April 1991. Nicht nur beim damaligen Innensenator Dieter Heckelmann (CDU). Auch in Frankfurt (Oder) erwartete man für diesen Tag eine wahre „Polenflut“. Jörg Kotterba, der Chef des Oderanzeigers in Frankfurt, fragte: „Schwappt die Händlerwoge, die zu einer sturmgepeitschten Welle ansteigen kann, in kürzester Zeit über Frankfurt?“
Grund für diese Hysterie war das Inkrafttreten des deutsch-polnischen Abkommens für eine visafreie Einreise für Touristen. Nachdem die alte Kontrollrats-Bestimmung mit der deutsch-deutschen Einheit und der völkerrechtlichen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland weggefallen war, hatte es mehrere Monate gedauert, bis den Polen wieder eine visafreie Einreise erlaubt war. Als es schließlich wieder so weit war, war die Angst vor einem neuen Polenmarkt allerdings größer als die Freude über die neuerliche Grenzöffnung. So groß, dass polnische Reisebusse am Morgen des 8. April 1991 von Neonazis mit Steinen empfangen wurden.
„Kein Politiker hielt es für nötig, die Gäste aus dem Nachbarland willkommen zu heißen“, kritisierte später der Vizevorsitzende des polnischen Sozialrats in Berlin, Hans-Peter Meister. „Statt dessen begegnet man den Polen mit Polizei, Müllabfuhr und Straftäterkartei. Das prägt die öffentliche Meinung.“ Doch die öffentliche Meinung irrte. Die dritte Phase der polnischen Migration brachte nach Berlin weder Flüchtlinge und Migranten, noch brachte sie neue Händler auf den Potsdamer Platz oder die Kantstraße. Während sich der Grenzhandel seit dem Visaabkommen von 1991 fortan auf den Grenzbasaren östlich der Oder und Neiße abspielte, trafen in den Zügen aus Polen nun Bauarbeiter ein, Putzfrauen, Fliesenleger und Stukkateure. Berlin, die erste Stadt des Westens, lag in Poznań, Szczecin oder Wrocław plötzlich näher als Warschau, und das Lohngefälle von zehn zu eins tat ein übriges. Es waren die Pendler, die in dieser Zeit als Akteure der europäischen Einigung auf die Bühne traten. Die polnischen Pendler in Berlin, aber auch die Tanktouristen und Schnäppchenjäger in Słubice, Zgorzelec, Łęknica oder Kostrzyn.
Mit Argwohn und Skepsis begegneten aber nicht nur die Deutschen dieser neuen Migration, wie Hans-Peter Meister kritisierte. Auch in der inzwischen heimisch gewordenen polnischen Community blickte man mit Sorge auf die Neuankömmlinge aus dem eigenen Land. „Viele Polen, die in den Achtzigerjahren nach Berlin kamen, sprachen in der U-Bahn kein Polnisch mehr, weil sie sich schämten“, erinnert sich Norbert Cyrus. Cyrus weiß, wovon er spricht. Er hat das Projekt Zapo mitbegründet, das seit mehreren Jahren osteuropäische Pendler, Frauen und Jugendliche berät. „Die Pendler“, hat Cyrus bei seinen Beratungsgesprächen herausgefunden, „sind auch heute noch bei ihren in Berlin ansässigen Landsleuten nicht besonders beliebt.“
„Der Transmigrant ist jener ideale Staatsbürger von morgen, der aus Erfahrung weiß, was für die meisten Europäer immer noch graue Theorie ist: dass Heimat etwas ist, was man sich erwirbt und nicht ererbt.“ (Anne Diehl, Sascha Naydenova, Kathrin Lehmann)
In ihrer Ausstellung „Durch Europa. In Berlin“ haben die Ethnologen Anne Diehl, Sascha Naydenova und Kathrin Lehmann einen neuen Typus des Migranten erforscht – den „Transmigranten“. Für diese neue Form des europäischen Staatsbürgers, so ihre These, ist es nicht unbedingt nötig, dass die beiden Länder – das Herkunfts- und das Aufnahmeland – benachbart sind. Entscheidend sei vielmehr, dass die Transmigranten „in beide Gesellschaften investieren, und zwar emotional, kulturell, sozial und ökonomisch“. Wer zwei Kulturen nicht nur kennt, sondern auch in ihnen lebt, hat anderen etwas voraus, vorausgesetzt, dieser Zugewinn wird von anderen auch anerkannt. Nicht der Flüchtling, den das Kriegsrecht nach Berlin verschlagen hat, nicht der Emigrant, der jahrelang auf seine Rückkehr wartet, auch nicht der „Gastarbeiter“, dessen Aufenthalt nolens volens zum Dauerzustand wurde, ist der Prototyp des neuen Europa in Berlin. Es ist der Fliesenleger, der aus Rzeszów oder Kołobrzeg kommt, sich als Arbeitnehmer ohne Arbeitserlaubnis über Tage, Wochen und manchmal Monate in Berlin aufhält, in der Stadt bereits ein Konto hat, die deutsche Sprache spricht und bei Bedarf auch seine Angehörigen einspannt.
Oder es ist der Deutsch-Pole, dessen Eltern seit Jahrzehnten in Berlin leben, der seine eigene Zukunft allerdings nicht nur in Berlin, sondern auch und in Polen sieht, der in Berlin arbeitet und seine Freizeit in Jelenia Góra verbringt, wo er am Fuße des Riesengebirges eine kleine Pension betreibt und immer wieder erzählt, warum er in Polen Tee trinkt, in Berlin dagegen Kaffee. Es ist das Wasser, das in Polen weicher sei.
Die polnische Migration der vergangenen zwanzig Jahre, die mit der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 begonnen hatte, ist somit tatsächlich ein Stück europäischer Geschichte. Und sie lässt, aller Skepsis und allem Argwohn zum Trotz, hoffen, dass man mit etwas mehr Gelassenheit auf die nächste Etappe schaut: die Aufnahme Polens in die Europäische Union. Immerhin waren es die acht Millionen Mitglieder der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność, die in den Achtzigerjahren die Grundlagen für ein vereinigtes Europa gelegt haben.
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