: erklärung von laeken
„Europa am Scheideweg“
Jahrhundertelang haben Völker und Staaten versucht, durch Krieg und Waffengewalt den europäischen Kontinent unter ihre Herrschaft zu bringen. [. . .] Um die Dämonen der Vergangenheit endgültig zu bannen, wurde mit einer Gemeinschaft für Kohle und Stahl der Anfang gemacht, zu der dann später andere Wirtschaftszweige, wie die Landwirtschaft, hinzukamen. Schließlich wurde ein echter Binnenmarkt für Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital geschaffen, zu dem 1999 eine einheitliche Währung hinzutrat. Am 1. Januar 2002 wird der Euro für 300 Millionen europäische Bürger zur alltäglichen Realität. [. . .]
In der [Europäischen] Union müssen die europäischen Organe dem Bürger näher gebracht werden. Die Bürger stehen zweifellos hinter den großen Zielen der Union, sie sehen jedoch nicht immer einen Zusammenhang zwischen diesen Zielen und dem täglichen Erscheinungsbild der Union. Sie verlangen von den europäischen Organen weniger Trägheit und Starrheit und fordern vor allem mehr Effizienz und Transparenz. Viele finden auch, dass die Union stärker auf ihre konkreten Sorgen eingehen müsste und nicht bis in alle Einzelheiten Dinge behandeln sollte, die eigentlich besser den gewählten Vertretern der Mitgliedstaaten und der Regionen überlassen werden können. Manche erleben dies sogar als Bedrohung ihrer Identität. Was aber vielleicht noch wichtiger ist: Die Bürger finden, dass alles viel zu sehr über ihren Kopf hinweg geregelt wird, und wünschen eine bessere demokratische Kontrolle. [. . .]
EINE BESSERE VERTEILUNG UND ABGRENZUNG DER ZUSTÄNDIGKEITEN
Es ist daher wichtig, dass die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten verdeutlicht, vereinfacht und im Lichte der neuen Herausforderungen, denen sich die Union gegenübersieht, angepasst wird. Dies kann sowohl dazu führen, dass bestimmte Aufgaben wieder an die Mitgliedstaaten zurückgegeben werden, als auch dazu, dass der Union neue Aufgaben zugewiesen werden oder dass die bisherigen Zuständigkeiten erweitert werden.
Ein erstes Bündel von Fragen, die gestellt werden müssen, bezieht sich darauf, wie wir die Einteilung der Zuständigkeiten transparenter gestalten können. Können wir zu diesem Zweck eine deutlichere Unterscheidung zwischen drei Arten von Zuständigkeiten vornehmen: den ausschließlichen Zuständigkeiten der Union, den Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten und den von der Union und den Mitgliedstaaten geteilten Zuständigkeiten? Und sollte nicht deutlicher formuliert werden, dass jede Zuständigkeit, die der Union nicht durch die Verträge übertragen worden ist, in den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten gehört? [. . .] Schließlich stellt sich die Frage, wie gewährleistet werden kann, dass die neu bestimmte Verteilung der Zuständigkeiten nicht zu einer schleichenden Ausuferung der Zuständigkeiten der Union oder zu einem Vordringen in die Bereiche der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und – wo eine solche besteht – der Regionen führt. Wie kann man zugleich darüber wachen, dass die europäische Dynamik nicht erlahmt? Auch in Zukunft muss die Union ja auf neue Herausforderungen reagieren und neue Politikbereiche erschließen können. [. . .]
MEHR DEMOKRATIE, TRANPARENZ UND EFFIZIENZ
Als Erstes stellt sich hier die Frage, wie wir die demokratische Legitimierung und die Transparenz der jetzigen Organe erhöhen können – eine Frage, die für die drei Organe gilt. Wie lassen sich die Autorität und die Effizienz der Europäischen Kommission stärken? Wie soll der Präsident der Kommission bestimmt werden: vom Europäischen Rat, vom Europäischen Parlament oder – im Wege direkter Wahlen – vom Bürger? Soll die Rolle des Europäischen Parlaments gestärkt werden? Sollen wir das Mitentscheidungsrecht ausweiten oder nicht? Soll die Art und Weise, in der wir die Mitglieder des Europäischen Parlaments wählen, überprüft werden? Ist ein europäischer Wahlbezirk notwendig oder soll es weiterhin im nationalen Rahmen festgelegte Wahlbezirke geben? Muss die Rolle des Rates gestärkt werden? Soll der Rat als Gesetzgeber in derselben Weise handeln wie in seiner Exekutivfunktion? Sollen im Hinblick auf Transparenz die Tagungen des Rates – jedenfalls in seiner gesetzgeberischen Rolle – öffentlich werden? [. . .]
Eine zweite Frage, ebenfalls im Zusammenhang mit der demokratischen Legitimierung, betrifft die Rolle der nationalen Parlamente. Sollen sie in einem neuen Organ – neben dem Rat und dem Europäischen Parlament – vertreten sein? [. . .]
Die dritte Frage ist die, wie wir die Effizienz der Beschlussfassung und die Arbeitsweise der Organe in einer Union von etwa 30 Mitgliedstaaten verbessern können. [. . .] Was soll mit dem halbjährlichen Turnus des Vorsitzes der Union geschehen? Welches ist die Rolle des Europäischen Rates? Wie lässt sich die Synergie zwischen dem Hohen Vertreter und dem zuständigen Kommissionsmitglied verbessern? [. . .]
DER WEG ZU EINER VERFASSUNG FÜR DIE EUROPÄISCHEN BÜRGER
Für die Europäische Union gelten zurzeit vier Verträge. Die Ziele, Zuständigkeiten und Politikinstrumente der Union sind in diesen Verträgen verstreut. Im Interesse einer größeren Transparenz ist eine Vereinfachung unerlässlich. Hierzu können Fragen gestellt werden, die sich in vier Bündeln zusammenfassen lassen. Ein erstes Fragenbündel betrifft die Vereinfachung der bestehenden Verträge ohne inhaltliche Änderungen. Soll die Unterscheidung zwischen Union und Gemeinschaften überprüft werden? Was soll mit der Einteilung in drei Säulen geschehen? Sodann stellen sich die Fragen nach einer möglichen Neuordnung der Verträge. Soll zwischen einem Basisvertrag und den anderen Vertragsbestimmungen unterschieden werden? Muss diese Aufspaltung vorgenommen werden? Kann dies zu einer Unterscheidung zwischen den Änderungs- und Ratifikationsverfahren für den Basisvertrag und die anderen Vertragsbestimmungen führen? Ferner muss darüber nachgedacht werden, ob die Charta der Grundrechte in den Basisvertrag aufgenommen werden soll und ob die Europäische Gemeinschaft der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten soll. Schließlich stellt sich die Frage, ob diese Vereinfachung und Neuordnung im Laufe der Zeit nicht dazu führen könnte, dass in der Union ein Verfassungstext angenommen wird. Welches wären die Kernbestandteile einer solchen Verfassung? [. . .]
ZUSAMMENSETZUNG
Neben seinem Präsidenten und seinen beiden Vizepräsidenten gehören dem Konvent 15 Vertreter der Staats- und Regierungschefs (ein Vertreter pro Mitgliedstaat), 30 Mitglieder der nationalen Parlamente (2 pro Mitglied), 16 Mitglieder des Europäischen Parlaments und zwei Vertreter der Kommission an. Die Bewerberländer werden umfassend an den Beratungen des Konvents beteiligt. Sie werden in gleicher Weise wie die Mitgliedstaaten vertreten sein.
ARBEITSMETHODEN
Der Präsident bereitet den Beginn der Arbeiten des Konvents vor, indem er die Ergebnisse der öffentlichen Debatte auswertet. Dem Präsidium fällt die Aufgabe zu, Anstöße zu geben, und es erstellt eine erste Arbeitsgrundlage für den Konvent.
ABSCHLUSSDOKUMENT
Der Konvent prüft die verschiedenen Fragen. Er erstellt ein Abschlussdokument, das entweder verschiedene Optionen mit der Angabe, inwieweit diese Optionen im Konvent Unterstützung gefunden haben, oder im Falle eines Konsenses Empfehlungen enthalten kann.
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