piwik no script img

Jahreswechsel hinter kalten Platten

Auch die Russen haben ihren Kultfilm zu Silvester: „Ironie der Geschichte oder Gut Dampf“. Ein Lob der Eintönigkeit

Plattenbauödnis, so weit das Auge reicht. In St. Petersburg/Leningrad, Moskau oder Omsk, überall haben sich Hochhausgürtel um die Städte gelegt. Dieser Lebensraum Platte hat seine eigene Kultur hervorgebracht. Nirgends gibt es zum Beispiel so viele Trampelpfade abseits der von totalitären Landschaftsplanern angelegten Gehwege, willkürliche Schneisen zu Garagen, Läden und Haltestellen. Die Abstimmung mit den Füßen offenbart den kollektiven Hang zur Eigenwilligkeit.

Auch Eldar Ryazanovs TV-Komödie „Ironie des Schicksals oder Gut Dampf“ ist ein Trampelpfad durch die Tristesse uniformer Architektur. Seit über zwanzig Jahren ist der Film in Russland das, was bei uns „Dinner for one“ ist: der Kultfilm zur Jahreswende. 192 Minuten Plattenbau-TV – wärmend wie ein Wodka in der Banja.

Im Comicvorspann drehen sich niedliche Plattenbauten zu lieblicher Marschmusik. Tanzt ein Hochhaus aus der Reihe, indem es – anders als die anderen – Balkone trägt, taucht sogleich eine riesige Hand auf. Schnurstracks rasiert sie die Balkone ab. Schwupps ist die Fassade wieder glatt. Und es geht weiter mit dem lustigen Ringelreihen der Arbeiterschließfächer. Der Film erzählt eine Liebesgeschichte: Moskau, 3. Baustraße Nr. 25. In dieser schicken Neubauplatte wohnt der Arzt Zheny. Es ist Silvester. Widerwillig macht Zheny seiner Freundin einen Heiratsantrag. Same procedure as every year, geht er anschließend in die Banja, die russische Sauna, um mit alten Schulfreunden zu trinken. Einer der Freunde will noch am gleichen Abend nach Leningrad fliegen. Sturzbetrunken finden sich die Männer schließlich am Flughafen wieder. Doch keiner weiß mehr, wer nach Leningrad wollte. Man erinnert sich, auf Zheny angestoßen zu haben. Also muss der fliegen. So gelangt der betrunkene Filmheld von Moskau nach Leningrad, wo er in der völlig baugleichen und vermeintlich eigenen Wohnung auf die blonde Lehrerin Nadya stößt, die wahre Liebe seines Lebens.

3. Baustraße Nr. 25 – Happy End. Aber nur im Film. Tatsächlich will Moskaus Stadtregierung Schluss machen mit der Plattenbaumonotonie. Grellbunte Anstriche, Balkone, Gesimse und Säulen sollen die Fassaden individualisieren. Grund genug, dem Plattenbaukosmos schnell noch einen Besuch abzustatten.

MARIA BENNING

Bed & Breakfast in einem Moskauer oder St. Petersburger Plattenbau ist im Internet unter http://www.moskau.ru zu finden.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen