: Gala-Auftritt im Schnee
Geradezu ein Dinosaurier unter den in den letzten zehn Jahren entstandenen Kulturzeitungen: Seit 1996 versucht die Berliner Zeitschrift für Lyrik und Poesie „lauter niemand“, junge Autoren zu fördern und sie einem größeren Publikum nahezubringen
von KIRSTEN KÜPPERS
Die Zeitschrift trägt den Namen lauter niemand, nach einem Zitat von Franz Kafka: „Ich weiß nicht, rief ich ohne Klang, ich weiß ja nicht. Wenn niemand kommt, dann kommt eben niemand. Ich habe niemandem etwas Böses getan, niemand aber will mir helfen. Lauter niemand. Aber so ist es doch nicht. Nur dass mir niemand hilft – sonst wäre lauter niemand hübsch. Ich würde ganz gern – warum denn nicht – einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter Niemand machen.“ Ein schöne Referenz.
In einem Mietwagen, der am Wochenende vor Weihnachten mit fünf Personen auf der A 7 von Berlin nach Mannheim fährt, hat es die „Berliner Zeitschrift für Lyrik und Prosa – lauter niemand“ trotzdem schwer. Wie Kultur es ja immer schwer hat, wenn die Wucht aktueller Ereignisse die Aufmerksamkeit des Publikums übermäßig beansprucht. Auf den Straßen herrscht an diesem Tag Katastrophenalarm. Wegen der Schneefälle und der Staus. Manche Autos stecken 16 Stunden in der Kälte fest, sagt das Radio. Lastwagen sind umgefallen. Der ADAC teilt Decken und warmen Tee aus.
Es ist also nicht einfach für lauter niemand an so einem Tag. Noch dazu mit Lyrik und Prosa. Auch wenn die veröffentlichten Gedichte in Worte münden wie „Heute bin ich ein Husky mit glänzendem Achselschweiß“ (Andrej Glusgold), die Texte mutige Anfänge wagen wie „Und jetzt fahre ich in die Stadt und FICKE EINEN ADLER!“ (Juli Zeh), und überhaupt die meisten Sätze danach rufen, laut vorgelesen zu werden, weil sie als funktionierende Melodien erfunden wurden. Aber auf der A7 schneit es. Der Wagen rutscht. Die Vermietungsfirma hat nicht verraten, dass er auf Sommerreifen fährt. Über weite Strecken schlittert das Auto nur seitwärts. Die Konzentration zum Lesen geht schnell verloren, Pommes Frites an der Raststätte helfen nicht. Die Wartezeit im weihnachtlich geschmückten Gastraum beträgt eine Stunde, erst dann geben die Räumfahrzeuge die Fahrbahn wieder frei!
lauter niemand existiert seit 1996 und ist damit nach Angaben der drei Herausgeber Adrijana Bohocki, Ernesto Castillo und Clemens Kuhnert der „Dinosaurier“ unter den zahlreich entstandenen Berliner Kulturveröffentlichungen der letzten Jahre. Die Redaktion verfolge kein literarisches Konzept bei der Zusammenstellung der Texte, hatte die 32-jährige Adrijana Bohocki am Tag vor der Autofahrt am Telefon erklärt. Es gehe lediglich darum, „junge Autoren zu fördern und unter die Leute zu bringen“. Aus 700 Einsendungen wähle man einfach die Beiträge aus, die am besten gefielen. Das Baby der Herausgeberin hatte dann kurz geschrien, und Bohocki rief später nochmal an.
lauter niemand erscheint alle sechs Monate in einer Auflage von 12.000 Stück, wovon jedoch die wenigsten Hefte tatsächlich zum Einzelpreis von 3,50 Mark verkauft werden. Adrijana Bohocki zieht zwar oft durch Ostberliner Kneipen. Die meisten Ausgaben würden jedoch umsonst verteilt, weshalb die Redaktion unter Geldproblemen leidet. lauter niemand finanziert sich nicht über Anzeigen, sondern allein über den Verkauf. Mittlerweile hat sich indes eine Stammkundschaft etabliert. Leserbriefe werden nicht selten in Gedichtform verfasst. Die Mitfahrer im Auto ziehen zur Unterhaltung trotzdem die Gala vor. Dort liest man Ausgefallenes über Prominente. Zum Beispiel, dass die Momo-Schauspielerin Radost Bokel inzwischen eine Karriere als HipHoperin anstrebt. Oder dass der Kinostar Brad Pitt und seine Gattin für ihren Urlaub gleich eine ganze Insel mieten. Die beiden Verliebten wollen sich nicht durch die Anwesenheit lästiger Mitmenschen gestört fühlen.
Bei lauter niemand gibt es, wie man sich denken kann, solche Hochglanzreportagen nicht. Das Blatt präsentiert sich in nüchternem schwarzgrau. Immerhin sind hier Namen aus der lokalen, nun ja, „Literaturschickeria“, zu entdecken.
Zu den Autoren zählen der Schriftsteller und Betreiber der Tanzwirtschaft Kaffee Burger Bert Papenfuß, der bekannte Lyriker Jan Wagner, die junge Schriftstellerin Juli Zeh, die mit ihrem Roman „Adler und Engel“, in diesem Jahr ein hübsches Aufsehen erregt hat, sowie ihre Kollegin Monika Rinck, deren allegorischer Fortsetzungsroman „die welt ist ein hotel aber ein schlechtes“ demnächst als Buch erscheinen wird. Adrijana Bohocki hat erklärt, diese Namen seien die “Zugpferde“ von lauter niemand. Sie hätte auch keine Schwierigkeiten Günter Grass zu veröffentlichen, wenn er denn was schicken würde.
Das Radio warnt „Achtung Autofahrer! Auf der A 9 Richtung Nürnberg befinden sich verwirrte Fußgänger auf der Fahrbahn!“ Um sich die Füße zu vertreten und weil es wegen dem Stau sowiso nicht weiterzugehen schien, sind viele Autofahrer aus ihrem Wagen gestiegen. Im Schneetreiben finden sie nun ihr Fahrzeug und die Familie nicht mehr. Um trauriges Verlorengehen in einer Schneeverwehung zu vermeiden, löst die 22-jährige Mitfahrerin im Auto das Gala-Kreuzworträtsel. lauter niemand hat sie weggelegt: „Schluss mit den Penis- und Macho-Gedichten der Siebzigerjahre“, hat sie gesagt. „Wir sind schon frei genug!“. Mit großer Ernsthaftigkeit trägt sie nun mit Kugelschreiber die Buchstaben in die Kästchen des Kreuzworträtsels ein. Es gibt ein Wochenende auf einer Wellnessfarm zu gewinnen. Nebel ist auf die Straße gesunken, eine Kette aus roten Rücklichtern kündigt weiteren Stillstand an, die Kartoffelchips sind alle.
“Irgendwie geht immer die Zeit rum.“ Es sind gute Sätze wie dieser von dem Schriftsteller Martin Bettinger, die einem an solchen Tagen im Kopf hängen bleiben; mit den Gedanken eigene Schleifen fahren, während sich der Schnee vor der Autoscheibe in hypnotisierenden Wirbeln dreht. Sätze, die flüchtigen Momenten eine schöne Bedeutsamkeit verleihen.
Das Radio sagt, bei Nürnberg sei eine Frau nach 12 Stunden im Stau stehen durchgedreht. Sie wurde mit einem Krankenwagen in eine bayerische Klinik transportiert.
Das Mietauto erreicht nach 26 Stunden seinen Zielort. Nur einmal hatte A.’s Funktelefon auf der Fahrt geklingelt; als ihr Vater betrunken aus einer Kneipe anrief. Irgendwie geht immer die Zeit rum.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen