: Ein Stück weit um die Sonne sausen
Endzeitstimmung am Nordseedeich, wenn statt Böllern das Meer kracht und auf fünf Meter vierzig über Normalnull steigt. Sobald das Reetdach unter Böen erzittert und der Pharisäer serviert wird, kommt der Sturm und die Zeit zur Besinnung
von BERND HANS MARTENS
Nun hieß es wieder: „Mal gucken, wie’s endet.“ Das war eine Aufforderung sich warm anzuziehen. Schon fuhr unsere Familie wenige Stunden vor Jahresschluss an den Nordseedeich. Galt es doch das planetarische Geschehen zu erkennen. Vom Deich aus sollten meine Schwester und ich unseren Horizont erweitern und erfahren, wie sich unsere blaue Perle durch Leere und Finsternis imWeltall bewegt. Mit Vaters Hilfe und der natürlichen Neugier, auf die er bei uns Kindern hoffte. „Nur noch ein Stück weit um die Sonne sausen“, sagte Vater und sah auf die Uhr, „dann ist es geschafft!“
Verweigern gab’s nicht. Ging es doch um unsere Existenzgrundlage. Wo sonst konnten wir die Erdbewegung deutlicher erfahren, als beim Sinken der Sonne auf den Horizont. „Diese gedachten Linie“, sagte Vater, „die es gar nicht gibt, aber gut zu sehen ist, wenn auch nur als Gerade, was gewiss nicht sein kann.“ Mutter seufzte, nur mit den Augen. Sie wusste, um Mitternacht begann die Fahrt im Universum aufs Neue. „Abreisen und ankommen sind eins“, rief Vater, „wir bleiben unterwegs!“
So spazierten wir auf dem Wurstener Seedeich entlang. Dort wo sich die Küste Richtung Cuxhaven krümmt. Mutter in Vaters Windschatten. Wir Kinder hinterher. Oft blieb Vater stehen, wollte wohl schon die Schwerkraft spüren. Gern hätte ich jetzt Heuler und Kracher in die Vordeichstille geschleudert.
Mutter sah es zuerst: Das Meer hatte Falten geworfen. Schlickbuckel kamen ans letzte Tageslicht. Ebbe also. Der Mond arbeitet präzise, auch wenn er nicht zu sehen ist. Kommt später die Flut, reißt sie das Schlickwatt wieder ein und trägt es woanders hin. „Es ist ein lunares Meer“, sagte Vater, „außerirdisch gebaut – durch Mondkraft.“ Nun war auch dieses Wunder erklärt, es durfte stattfinden. Sogar zweimal am Tag.
„Und hier soll es geschehen sein?“, fragte meine Schwester. „Die Entstehung des Lebens aus dem Meer?“ Vater nickte, nannte es die Urkraft des Lebens, die in jedem Lebewesen stecke. Die Kraft zur Fortpflanzung. „Das ist die Liebe“, wusste meine Schwester und wollte mehr davon wissen. Vom Anfang, vom Leben und von der Liebe. „Später“, sagte Mutter, „später gibt es mehr davon.“
Elf Jahre danach, endlich, es ist so weit. Ich stehe mit Inga auf dem Deich bei Osterhever. Eng umschlungen, vom Wind zerzaust. Die Urkraft also. In Ruhe wollen wir Silvester auf der nordfriesischen Halbinsel Eiderstedt verbringen. Ohne Heuler und Kracher. Der Vollmond steht wie ein Loch im düsteren Himmel über dem Meer – Springflut also. Der Nordwest hat sich zum Sturm aufgepustet, jagt die schwarze See die Deichschräge hoch. Noch sind es gut zwei Stunden vor Hochwasser. Mal gucken, wie’s endet, denkt etwas in mir. Inga drückt sich an mich, so hätte sie sich das Küstenleben vorgestellt. Sie kommt aus dem fernen Bielefeld; das Fauchen der Fallböen erschreckt sie. Dass die Deiche laufend höher werden, rufe ich beruhigend in ihr hübsches Ohr. „Der Meeresspiegel auch!“, schreit sie zurück. Diskutieren ist jetzt zwecklos; wir müssen Kräfte sparen. Außerdem haben wir einen Tisch in der „Friesenkate“ bestellt. Mit Rückenwind fliegen wir unterm Lichtstrahl des Westerhever Leuchtturms hindurch, landen in einem kleinen Restaurant gleich hinterm Deich.
Inga will mutig sein, bestellt Labskaus. Ich auch. Dem Kellner zuckt eine Lippe, er hat aber nichts zu bestellen; Haifischsteak oder Scholle Cordon bleu gibt es auch in Bielefeld. Einen Pottje Tee mit Rahm und Kandis dazu. Danach einen Pharisäer. So warten wir die Sturmflut ab. Manchmal biegt sich die Kerzenflamme, wenn eine Fallbö aufs Reetdach schlägt.
Zuerst wird der Pharisäer gebracht, wie bei Befreiungen üblich (Schulentlassung, Schiffstaufe, Beerdigung). Das Getränk war aus der Not entstanden wie die Deiche. Kaffee mit Rum, darüber eine Sahnehaube gestülpt, damit der mitfeiernde Pastor den Alkohol nicht riechen konnte. Der Wirt schließt die Fensterläden. Eine Böenkaskade rast drüber weg, das Lampenlicht flackert. Da kommt eine Meldung von der Tresenbesatzung: „Fünf Meter zwanzig über Normalnull!“ Und das über eine Stunde vor Hochwasser. Da kommt der Tee gerade recht, Kandis und Rahm zuerst einfüllen. Neue Kerzen werden feierlich angezündet, falls der Strom ausfällt. Das Knacken des Kandis beim Eingießen des Tees lässt Inga an Schiffbruch denken. Sie hat die Titanic im Kino sinken sehen. „Nur wer sich das Meer zum Feind macht, hat drei Viertel der Welt gegen sich“, zitiere ich Vaters Naturphilosophie. Mit solchen Sätzen ist mir schon früh ein Grundvertrauen fürs Leben gegeben worden. Und es wirkt; nur bei Inga nicht. „Vielleicht sollten wir jetzt lieber in Bielefeld sein“, sagt sie kleinlaut.
Nun steht das Menü vor uns auf dem Tisch. Labskaus also, ein Seemannsessen. Doch der Eindruck trügt, es hätte auch binnendeichs der Weide entnommen sein können. Von Konsistenz und Form her entspricht es einem mittelprächtigen Kuhfladen. Nur die Farbe ist schöner. Ein herrlich freibeuterisches Rot lässt Inga vorsichtig zulangen. Labskaus ist ebenfalls aus der Not entstanden. Nach überlanger Reise bei widrigen Winden war auf einem heimfahrenden Schoner der Proviant ausgegangen. Der Smutje kochte die Reste zusammen: Kartoffeln, Zwiebeln, eine Dose Rindfleisch, rote Beete. Für den Kapitän wurde ein vergessener Matjes aus dem Fass über den flachgewölbten Nahrungshaufen gelegt. Für Inga auch.
„Fünf Meter vierzig!“, ruft es hinterm Tresen hervor. Inga legt Messer und Gabel weg. Sonst wird kaum noch geredet. Dem Brüllen des Sturms hat niemand etwas entgegenzusetzen. Manchmal, wenn die Böen kurz innehalten, als könnten sie ihr Gebrüll selbst nicht mehr ertragen, höre ich einen fernen Möwenschrei. Inga nicht. Oder ist es das Geschnalz des Kaffeeautomaten? Der Wirt verteilt Pharisäer zum Anstoßen aufs neue Jahr. „Abwarten“, sagt er, „das ist alles, was zu tun ist.“ Sturmzeit ist hier auch Zeit zur Ruhe und Besinnung.
„Eine Minute noch“, kommt die letzte Meldung. Ingas Blick greift nach mir. „Nur noch ein Stück weit um die Sonne sausen“, sage ich. Und wir halten uns fest.
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