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„Sie halten es für Respekt“

Ihr Familienrecht bringen MigrantInnen mit: Auch im Westen gilt die Scharia für sie

PARIS taz ■ Aus den letzten Sommerferien kam Shaimé* als Ehefrau zurück nach Paris. Verheiratet wider Willen. Die Eltern hatten den Sommerurlaub in Marokko genutzt, um die 18-Jährige mit einem Cousin zusammenzubringen. Shaimé erfuhr erst im letzten Moment von dem Vorhaben. Ihre Proteste verhallten nutzlos. Die Eltern hatten längst ein „Ehrenwort“ gegeben.

Shaimé kam im Alter von sechs Monaten nach Paris. Sie fühlt sich als Französin „marokkanischer Herkunft“. Als beurette. Aber ihr Pass ist marokkanisch. Über ihren Antrag auf die französische Staatsangehörigkeit haben die Behörden noch nicht entschieden. Für Shaimé wird es deshalb schwer werden, die Zwangsehe in Frankreich zu annullieren. Denn in Familienfragen gilt für ImmigrantInnen das Recht des Herkunftslandes. So steht es in den bilateralen Abkommen, die Paris mit seinen Exkolonien abgeschlossen hat. Und so will es auch das internationale Privatrecht.

Die Abkommen sind zum Schutz der nationalen Interessen gedacht. Unter anderem garantieren sie Franzosen, die im Ausland leben, dass sie in Familienfragen französischem Recht unterliegen – statt jenem des Aufenthaltslandes. Umgekehrt gilt für in Frankreich lebende ImmigrantInnen dasselbe.

Das französische Familienrecht und jenes der Herkunftsländer Hunderttausender von ImmigrantInnen widersprechen sich oft. Dramatisch wird es, wenn es um Hochzeiten und Scheidungen, um das Sorgerecht für Kinder oder um Erbschaften geht. Denn das Familienrecht in zahlreichen Exkolonien ist von der Scharia geprägt. So lässt das 1984 von dem algerischen Regime eingeführte Familienrecht die Polygamie zu. So wird Frauen in vielen islamischen Ländern nach einer Trennung das Sorgerecht für ihre Kinder verweigert, und so darf der Ehemann vielerorts die Gattin „verstoßen“ – er muss dazu bloß den Satz „Ich verstoße dich“ aussprechen.

Die Soziologin Chala Chafiq verlangt angesichts der Rechtskonflikte nach einem „vom Herkunftsland unabhängigen Familienrecht“. Wie für Flüchtlinge müsse auch für EinwandererInnen das französische Familienrecht gelten. Seit den 80er-Jahren ist das islamische Recht in Frankreich zum Thema geworden. Frauengruppen beraten die Opfer. Initiativen veranstalten Fortbildungen für FamilienrichterInnen. Dass es lange gedauert hat, bis diese Sensibilität aufkam, erklärt die Soziologin Juliette Minces mit einer weit verbreiteten „ideologischen Strömung, die das Recht auf den Unterschied und die andere religiöse Identität“ propagiert. „Besonders auf der Linken“, so Minces, „halten viele das für Respekt.“

Shaimé musste ihrem „Gatten“ versprechen, dass sie in Paris eine „Familienzusammenführung“ beantragen würde. Denn er will in Frankreich leben. Stattdessen nahm die junge Frau gleich nach ihrer Rückkehr einen Anwalt. Auf eine Lösung in Frankreich macht der ihr keine Hoffnung. „Mademoiselle“, schlägt er stattdessen vor, „fahren Sie nach Marokko, und kaufen Sie sich frei.“ DOROTHEA HAHN

*Name und Wohnort geändert

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