: Ontologisch weiderentwiggelt mit Willie und Gerd
■ Nach der Medien-Coop-Ganzheitlichkeit letzte Woche braucht's der Ausgeher mal wieder härter: Vom Sein in der Steintorschänke
Wo geht man hin, wenn der Morgen graut und man sukzessive aus sämtlichen Kneipen rausgeschmissen wird? Entweder geht man endlich Heiamachen oder noch in die Steintorschänke. Ich bevorzuge letzteres, denn aus Heiamachen mache ich mir nichts. Da macht man die Äuglein zu und ist für die folgenden Stunden für sich selbst und den Rest der Welt verloren. Eigentlich eine ärgerliche Zeitverschwendung.
Ganz anders das Sein in der Steintorschänke. Und das ist nicht irgendein Sein, sondern ein Sein sowohl im ontologischen Sinne Heideggers als auch im ontogenetischen Sinne Gebsers und Piagets. Warum denn das, mag man sich fragen. Ich will es erläutern. Ontologie, recht verstanden, ist die Erforschung des Seienden und Ontogenese, recht verstanden, die Erforschung des Werdenden. Anders ausgedrückt: Synchronie und Diachronie, Theologie und Evolutionstheorie.
Nur das gegenwärtig Seiende zu betrachten, verstellt den Blick für den Entwicklungscharakter alles Seienden. Und nur den Entwicklungscharakter alles Seienden zu betrachten, verstellt den Blick für das gegenwärtig Seiende. Willie und Gerd waren da beide anderer Meinung. Willie war ein Verfechter der Synchronie und Gerd ein Verfechter der Diachronie. Vor einer Minute hatten sie sich deshalb noch prügeln wollen. Nach einem kurzen – und aufgrund des Alkoholkonsums beider recht ziellosen – Handgemenge hatten sie sich hingesetzt, um den Zwist „wie Männer auszudiskutieren“.
Mich, der ich gerade aus dem Heartbreak rausgeflogen war und erst seit knapp fünf Minuten hier saß, hatten sie als Schiedsrichter auserkoren. Willie saß links von mir und Gerd rechts von mir an den klebrigen Tischen neben der Eingangstür. „So Macker“, sagte Willie zu Gerd, „du hass also damals mit meine Alde rumgemacht und dann erzähls du mir das aunoch. Was hassu dir dabei gedacht, mann?“ Gerd zögerte. Er tat einen tiefen Atemzug. Dann sagte er: „Was heiss hiä rumgemacht. Wir ham gevögelt.“ Willie wollte ihm an die Gurgel, aber ich fing seine Hand in der Luft ab und sah ihn tadelnd an. Er schnaufte und beruhigte sich wieder. Gerd hob zu seiner Verteidigung an: „Mann, die Alde hat mich angemacht. Was würds du'n machen, häh? Außerdem tuts mir leid, ey. War nämlich scheiße“, fügte er halblaut hinzu. „Du Eimer wusstes doch ganz genau dassas meine Alde is und trotzdem!“, beharrte Willie. „Ja mann, das war damals, ey“, sagte Gerd, „da kannten wir uns doch noch garnich und außerdem tuts mir leid und kommt nich wieder vor, Ehrnwort. Ich mein, wir sind doch jezz Kumpels oder was.“
Es war einen Moment still, niemand sagte etwas, außer Billy Idol. „Ähh ... darfich auchma was sagen?“, fragte ich vorsichtig. „Na klar mann, du biss doch hiä der Schiedsrichter oder was?“, sagte Willie. Ich räusperte mich und nahm dann einen Schluck Bier. „Also, für mich siehdas folgnermaßen aus: Er hat deine Alde geknallt, obwohler wusste, dassas deine Alde war. Das macht dich sauer. Würds mich auch machen. Jezz hatter dich aber inner Zwischenzeit besser kenngelernt und würddas nichmehr machen und ihm tuts leid, weiler dich jezz mag. Da hatter sich ja weiderentwiggelt. Jezz würd ich sagen, dasser euch mal vertragt, weil er hat sich ja gebessert. Was nix dran ändert dassu sauer biss, aber ihm jezz was anne Fresse haun, würd ja auch nich wirklich was helfen, wa? Weil“, ich erhob den Zeigefinger, „er is ja jetzt ein ganz anderer Mensch. Du wolltst ja dem Gerd von damals auf Maul haun. Aber der Gerd von damals is garnich mehr da. Da würdste den Falschen treffen. Mein Vorschlach is: geh ma auffe Straße raus und tret ma anne Laterne dran, von wegen Aggressionsabfuhr und so. Und dann kommste wieder her und wir kickern ne Runde zusamm.“ So geschah es.
Die Steintorschänke, Vor dem Steintor 52, hat ungelogen 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche geöffnet. Ein Flaschenbecks, 0,3, kostet 2 EUR. Das Personal wechselt oft, ist aber immer sehr nett. Es gibt einen Kicker und mehrere Daddelautomaten.
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