matthias urbach über Nebenwirkungen: Nur Widerlinge merkt man sich
Muss man mitternachts einen Täter identifizieren, ist es hilfreich, wenn der nicht übertrieben freundlich war
„Objects in mirror are closer than they appear!“ (Hinweis in US-amerikanischen Auto-Seitenspiegeln)
Tante Ingrids oberstes Prinzip war, das Haus nie ohne frische Unterwäsche zu verlassen: „Falls ich in einen Unfall gerate – und ins Krankenhaus muss.“ Sich die Knochen zu brechen, sorgte sie weniger, als unvorbereitet in irgendwas hineinzugeraten.
Doch die vielen Wochenenden in der Obhut meiner Tante konnten mich nicht vorbereiten auf drei Kriminalbeamte, die um Mitternacht Fahndungsfotos auf meinem Esstisch ausbreiten. Hätte ich geahnt, dass an diesem Abend direkt vor meinem Schlafzimmerfenster ein armer Trinker überfallen und ich Kronzeuge der Tat werden würde, ich hätte unsere Wohnung auf Vordermann gebracht; hätte Böden geschrubbt, das Bad gescheuert, die Vorhänge gebleicht.
Der Mensch ist, wie er wohnt. Die Bude sollte aufgeräumt sein, aber nicht geleckt wirken. Hier und da betont achtlos hingeworfene Pullis machen sie erst so richtig einladend – wie ein paar Gänseblümchen eine satte grüne Maiwiese.
Wird man allerdings vom Besuch überrascht, sollte man cool bleiben. Nichts ist peinlicher, als muffige Socken vom Fernseher zu zupfen und zu murmeln: „Ich bin leider nicht zum Aufräumen gekommen.“
Locker bleiben, sage ich mir also. Wo unsere Wohnung vor den Kripobeamten schon aussieht wie ein eng beschriebenes Führungszeugnis, will ich wenigstens beim Räuberfangen punkten. Das fiele mir zweifelsohne leichter, hätte sich der Schurke von Anfang an schurkisch benommen. Es gehört zu den großen Ungerechtigkeiten des Lebens, dass sich Widerlinge besser einprägen als nette Menschen.
Doch der Gangster war zunächst eigentlich ganz sympathisch. Aufgeschreckt vom nächtlichen Lärm eilte ich zum Schlafzimmerfenster, um den Schlaf meines einjährigen Sohnes zu verteidigen. Vor dem Haus erspähte ich einen älteren Mann schwankend, eine Bierdose in der Hand, umringt von fünf jungen Männern. Ich öffnete das Fenster und bat um Stille. „Siehste, sei ruhig, Mann!“, sagte einer der Jüngeren zu dem Trinker und lächelte mir zu.
Netter Junge, dachte ich und schloss das Fenster, der wird den Alten schon beruhigen. „Betäuben“ wäre das treffendere Wort gewesen. Denn plötzlich schlug der nette Mann dem Alten die Faust ins Gesicht, trat zweimal kräftig zu, griff in seine Jackentasche – und fort war er samt seinen Kumpanen, ohne mich noch mal anzusehen.
Mir der Wahrnehmung ist das so ein Ding. In einem Wissenschaftsjournal habe ich mal von einem Psycho-Experiment gelesen: Passanten, die harmlos nach dem Weg gefragt wurden, registrierten es demnach in der Regel nicht, wenn der Fragesteller mitten in ihrer Wegbeschreibung durch einen anderen ersetzt wurde. Dazu musste angeblich der Passant nur kurz und kräftig abgelenkt werden, etwa durch ein lärmend vorbeibretternden Müllwagen. Offenbar merken wir uns die Gesichter von Leuten nicht, die uns nicht interessieren.
Wer schmerzlich ignoriert wird, handele besser rabiat: Lange ärgerte ich mich über Raser, die mir beim Abbiegen beinahe über die Füße walzen, als wäre ich bloß ein orange-weiß geringeltes Verkehrshütchen. Bis ich beschloss, mich wahrnehmbar zu machen. Ein Schlag aufs liebe Blech lässt jeden Piloten aufhorchen und die Bremse knüppeln. Es ist die Angst um seinen Lack, die den Raser plötzlich auf mich, diesen „Widerling“, aufmerksam macht. Meistens denkt er, ich hätte aus weiter Distanz einen Stein auf sein Auto geschleudert, bis ich sanftmütig erläutere, bloß mit der flachen Hand die C-Säule geknufft zu haben: „Damit Sie merken, wie nah Sie mir gekommen sind.“
An dieser Stelle muss ich warnen! Corvette-Fahrer eignen sich nicht für solcherlei Instant-Belehrung. Auch wenn in ihrem Seitenspiegel der Hinweis klebt „Objects in mirror are closer than they appear“, haben sie kein Gefühl für eigene Fehler und lassen sie sich selten von fröhlicher Selbstjustiz abbringen.
Was ich ihnen nicht krumm nehme. Auch ich kenne das Gefühl, einer Situation intellektuell nicht gewachsen zu sein. Eigentlich auf jedem Familienfest. Eine komplette Abfolge aller christlichen Feiertage war nötig, allein um zu begreifen, dass meine Schwiegermutter das Essen nicht wirklich nachkochen will, wenn sie nach dem zweiten Bissen den Gastgeber lautstark nach dem Rezept fragt.
Zwei Jahre Kontakt mit meiner neuen Familie haben mich gelehrt, dass das Böse viele Verkleidungen kennt. Vielleicht habe ich ein wenig verlernt, das Naheliegende zu erkennen: Fünf junge Männer mit Bomberjacken und Kurzhaarschnitt, die vor meinem Fenster einen Trinker umringen, sind keine Partygesellschaft.
Also blättere ich mitten in der Nacht unsicher durch die Fahndungsfotos der einschlägigen Kriminellen aus meiner Nachbarschaft. Eine bunte Kollektion von sechzig bei der Geburt getrennten Bomberjacken-Mehrlingen. Und nach einem Dutzend verflixt ähnlicher Polaroids habe ich leider total vergessen, wie dieser Halunke aussieht.
Fragen zu Nebenwirkungen?kolumne@taz.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen