: Die Steine bleiben diesmal liegen
Das wegen Ehebruchs über eine Mutter verhängte Todesurteil ist aufgehoben. Doch die Scharia gilt weiter im Norden Nigerias. Das Land ist gespalten
aus Lagos HAKEEM JIMO
Auf einer Ebene der nigerianischen Gesellschaft hat sich die Scharia schon durchgesetzt. Gespielte Drohungen wie „Ich werde Scharia mit dir machen“ oder „Ich werde dich steinigen“ gehören zum makabren Humor junger Leuten in Lagos, Nigerias größter Stadt im nicht muslimischen Süden des Landes. Der Erzbischof der Stadt, Olubunmi Okogie, bot sich sogar im Austausch für Safiyatu Husseini zur Steinigung an.
Das Angebot ist nun hinfällig, da das Todesurteil über die 35-jährige Mutter aus dem nordnigerianischen Dorf Tungar-Tudu gestern aufgehoben wurde. Aber mit der beispiellosen Debatte um Safiyatu Husseini – deren einziges Verbrechen es war, ein Kind zu bekommen, obwohl sie geschieden ist – hat die Diskussion um das islamische Recht in Nigeria eine neue Dimension angenommen. Es ging nicht um das Leben einer Frau – es ging um die Zukunft des Landes.
Rund zweieinhalb Jahre ist es her, dass der nordwestliche Bundesstaat Zamfara als erster in Nigeria das islamische Strafrecht einführte – ein Beispiel, dem seitdem elf weitere Bundesstaaten auf ungefähr der gesamten Nordhälfte Nigerias gefolgt sind. Aber erst jetzt kommen harte Angriffe aus der Regierung auf die Scharia-Front.
Nigerias Justizminister und Generalbundesanwalt Kanu Agabi, Nachfolger des im Dezember unter bis heute nicht geklärten Umständen ermordeten Bola Ige, schrieb vergangene Woche den zwölf Scharia-Provinzgouverneuren einen Brief, in dem er Scharia-Strafen als diskriminierend bezeichnete, da sie nur für Muslime gälten und diese daher gegenüber Angehörigen anderer Religionen benachteiligten. Nicht die Scharia an sich sei das Problem, sondern die drakonischen Strafen, stand in dem in den Zeitungen veröffentlichten Schreiben. Der Justizminister kam zu dem Schluss, dass die in der Scharia vorgesehenen Strafen verfassungswidrig seien, und forderte die betroffenen Bundesstaaten auf, zum Status quo ante zurückzukehren.
Reaktionen blieben nicht aus. Der Generalsekretär des nigerianischen Rates für islamische Angelegenheiten, Lateef Adegbite, sieht durch die Äußerungen in dem Brief den gesamten Islam in die Illegalität getrieben. „Islam ist Scharia und Scharia ist Islam“, sagte der administrative Chef der nigerianischen Muslime. Würden Teile der Scharia als verfassungswirdig erklärt, so tue man dies mit der ganzen Religion, fuhr er fort.
Nigerias Zentralregierung unter dem 1999 gewählten Präsidenten Olusegun Obasanjo hatte es bisher vermieden, klare Stellung gegen die Scharia zu beziehen. Der Präsident hielt sie vor allem für ein politisches Problem, kein gesellschaftliches. Obasanjo bezeichnete die Rückbesinnung auf das islamische Strafgesetz als politisch motivierte Entscheidung von Individuen, die sich davon mehr machtpolitischen Einfluss erhofften. Das werde früher oder später von selbst aufhören, fand er. Zu einem Machtkampf über die Verträglichkeit der Scharia mit der Verfassung wollte er es nicht kommen lassen. Aber dieser Zeitpunkt scheint jetzt gekommen zu sein.
Denn je mehr die nordnigerianischen Staaten die Scharia forcieren, desto tiefer werden die Gräben innerhalb der nigerianischen Gesellschaft. Die Entfremdung der Nigerianer aus Nord und Süd ist weit gediehen. Im islamischen Norden scheinen weite Teile der Bevölkerung die Scharia gutzuheißen. Die Leute erhoffen sich eine sicherere Gesellschaft und ein geordneteres Leben – wichtige Ziele in einem von Rechtlosigkeit gekennzeichneten Land. Viele Nichtmuslime im Norden sehen dagegen ihr Freiheiten eingeschränkt, trotz Beteuerungen der Scharia-Verfechter, das Strafgesetz gelte nur für Muslime. Tausende von ihnen haben Nordnigeria verlassen, oft nach blutigen Unruhen zwischen Milizen der verschiedenen Volksgruppen. Die Bürger aus dem Süden, die Christen, aber auch Muslime anderer Volksgruppen als die der im Norden dominierenden Haussa sehen die Idee eines weltlichen, geeinten Nigeria vergewaltigt.
Im Süden Nigerias wird inzwischen gefordert, die Transferzahlungen der Zentralregierung aus dem Süden in die armen Bundesstaaten des Nordens einzuschränken. Es gehe nicht an, dass der verarmte Norden von den Einnahmen aus Alkohol- und Tabaksteuer sowie den Bodenschätzen wie Erdöl im Süden profitiere, dann aber das Leben von Nichtmuslimen und Nicht-Haussa beeinträchtige.
Die Steinigung von Safiyatu Husseini hätte die Wellen der Empörung mit Sicherheit höher schlagen lassen. Die 35-Jährige bleibt nun verschont. Sie wird weiter als arme Landfrau in ihrem Dorf leben, so wie sie übrigens auch während des schwebenden Verfahrens um das Todesurteil gelebt hat. Im islamischen Strafrecht sind Todestrakte und Gefängniszellen für Hinrichtungskandidaten nicht vorgesehen; bis zum Tag der Hinrichtung hätte Safiyatu Husseini in ihrer Gemeinschaft leben können, als sei nichts geschehen.
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