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„Wir sind keine Supermacht mehr“

Der russische Duma-Abgeordnete Wladimir Ryschkow hält die Außenpolitik von Präsident Putin für pragmatisch. Langfristig ist der Platz Russlands in Europa. Der restriktive innenpolitische Kurs könnte jedoch die Integration in den Westen blockieren

Interview KLAUS-HELGE DONATH

taz: Sie sind ein unermüdlicher Vorkämpfer für eine langfristige Integration Russlands in Europa. Hat Europa nach dem 11. September in Russland noch eine Zukunft?

Wladimir Ryschkow: Nach den Anschlägen ist Europa hinter die USA wieder ins zweite Glied gerutscht. Das Übergewicht der USA im russischen Denken wird aber langsam abklingen. Der Schulterschluss mit den USA ist ein erster Schritt Richtung Westen, der langfristig in der europäischen Integration gipfeln wird. Schon jetzt ist die EU größter Handelspartner, nach der Osterweiterung steigt ihr Anteil auf über 50 Prozent. Dennoch: Wir schwelgen nicht in Illusionen, sondern bauen bewusst auf einen langwierigen Prozess.

Die politische Elite starrt aber gebannt in die USA …

Die politische Klasse ist weiter imperialem sowjetischem Denken verhaftet. Der Status Supermacht ist ihr lieb und teuer. Aber wir sind keine Supermacht mehr. Die herrschende Elite hat kaum Vorstellungen von der EU und begreift nicht, dass im Westen Russlands eine gewaltiges Netz entsteht, das in allen Politikbereichen eine neue Qualität schaffen wird. Dafür müssen die Politiker sensibilisiert werden.

Wladimir Putin hat sich im September den USA als Juniorpartner anempfohlen. Fußt seine Ausrichtung nicht mehr auf imperialem Denken?

Nein, die Dinge stehen hier anders. Putin betreibt eine pragmatische Außenpolitik, die russischen Interessen dient und langfristig angelegt ist. Das erlaubt ihm, etwa die Stationierung amerikanischer Truppen in Zentralasien sowie die Entsendung von US-Militärs nach Georgien gelassen zu sehen. Gleichzeitig bemüht sich Putin um eine Vertiefung der Beziehungen zur EU. Tony Blairs Nato-Initiative hat der Kremlchef ebenfalls gutgeheißen. Bei dem Entwurf der „Gruppe 20“ kommt es Putin darauf an, Russland wenigstens in einigen Sicherheitsfragen gleiches Stimmrecht zu garantieren. Dies ist die einzige richtige und mögliche Außenpolitik. Den USA hat Russland nichts entgegenzusetzen. Konfrontation wäre unproduktiv. Nochmals in einen Wettlauf mit den USA einzusteigen, wenn der Staat seinen Pensionären gerade mal 40 US-Dollar Rente im Durchschnitt zahlen kann, wäre mehr als zynisch. Mir scheint, Putin hat das erkannt. Statt an den globalen Spielchen teilzunehmen, fokussiert er die Schwierigkeiten zu Hause. Das politische Establishment, dessen weltanschauliche Orientierung wegbricht, kritisiert ihn deswegen vehement.

Sie provozieren die imperialen Haudegen im eigenen Land mit der Feststellung, die Stationierung von US-Truppen weltweit sei nur ein Problem des amerikanischen Steuerzahlers … Sehen Sie Nato-Osterweiterung und Aufkündigung des ABM-Vertrages auch so gelassen?

Der einseitige Ausstieg der USA war ein Fehler. Nicht wegen unserer Sicherheitsinteressen. Die unklare Situation birgt immense Gefahren, warum sollten sich China, Indien, Pakistan, Iran und Irak nicht in einen neuen Rüstungswettlauf stürzen? Und gegen die Nato-Osterweiterung wehrt sich Russland, da wir bisher nicht verstehen, welcher Platz uns im europäischen Sicherheitssystem zugedacht ist. Das schürt Isolationsängste.

Jenseits aller Strategie: Zeigt sich bei den schleppenden Verhandlungen um die russische Exklave Kaliningrad nicht, dass Misstrauen das Verhältnis zwischen EU und Russland regiert?

Beide Seiten haben Fortschritte gemacht. Noch nie hat Moskau ein so umfangreiches Entwicklungsprogramm für diese Region bereitgestellt wie im jetzigen Haushalt mit einer Milliarde Rubel (37 Mio. Euro). Die EU plant ebenfalls zu investieren. In der Transit- und Energiepolitik sind sich beide Seiten näher gekommen. Nicht gelungen ist es Russland, die EU zu überzeugen, dass es in der Lage ist, die kriminelle Entwicklung in Kaliningrad unter Kontrolle zu halten. Zugegeben, Misstrauen mag weiter herrschen. Dennoch muss gerade in der Visafrage eine Lösung gefunden werden. Was passiert, wenn 300.000 Kaliningrader Schengen-Visa beantragen müssten ?

Innenpolitisch gibt Putins Kurs eher Anlass zu Besorgnis.

Die Innenpolitik ist zumindest widersprüchlich. Einerseits hat Putin lange überfällige Reformen durchgesetzt, an denen Jelzin noch gescheitert ist. Der Umgang mit den Massenmedien, dem Parlament, der Opposition verheißt jedoch nichts Gutes: Das gegenwärtige System gleicht einer lenkbaren Demokratie mit Elementen eines sanften Autoritarismus. Ich fürchte, der Präsident begreift nicht, dass die restriktive Innenpolitik die Integration in den Westen auf Dauer blockiert. Die Modernisierung kann so nicht gelingen. Sind die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und die um das Doppelte gestiegene Kapitalflucht seit Putins Amtsübernahme reine Zufälle? Je schwächer die demokratischen Institutionen, desto anfälliger ist die Wirtschaft. Anatoli Tschubais, der Chef des größten russischen Stromlieferanten RAO EES, sprach es offen aus: Anhänger polizeistaatlicher Lösungen hätten sich in der Nähe des Präsidenten zusammengerottet, die müssten bekämpft werden. Wäre Putin ein überzeugter Demokrat, müsste er die aktiven und mutigen Kräfte in der Gesellschaft unterstützen. Stattdessen sehen sie sich massiven Angriffen ausgesetzt.

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