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Die Spur der Kämpfe

Augenzeugenberichte aus dem Lager Dschenin. Armee darf Leichen nicht anonym bestatten

„Die Israelis haben auf alles geschossen, was sich bewegt hat. Diese Tage werden wir ihnen nie vergessen.“

aus Dschenin KARIM EL-GAWHARY aus Jerusalem ANNE PONGER

Sieben lange Tage hat es gedauert, bis israelische Truppen das Flüchtlingslager Dschenin im Norden des Westjordanlandes unter ihre volle Kontrolle gebracht haben. Jetzt liegt gespenstische Stille über dem nur einen Quadratkilometer großen Lager mit seinen 13.000 Einwohnern. Sie leiden nach wie vor unter einer Ausgangssperre. Was genau hier vorgefallen ist, wissen nur sie und die israelische Armee.

Die Armee hat einen Ring um das Lager gelegt, der nicht einmal für Mitarbeiter des Roten Kreuzes durchlässig ist. Auch Journalisten wurden zurückgehalten – wegen der Gefahr, auf von Palästinensern gelegte Minen zu treten. So argumentieren die Israelis. Nein, um das grausame Vorgehen der Armee zu vertuschen, halten die Palästinenser dagegen. Erst gestern wurde wenigen ausgesuchten Reportern ein kurzer Besuch erlaubt.

Von außen sind zerstörte Häuser auszumachen und die Straßen, die mit Bulldozern erweitert wurden, damit die Panzer ungehindert durch das Lager rollen können. Als Zeugen für das, was sich in Dschenin abgespielt hat, können vorläufig nur diejenigen dienen, die in den letzten Tagen während der Kämpfe aus Dschenin geflüchtet sind und jetzt zu hunderten in den umliegenden Dörfern warten.

Zum Beispiel Atra Hassan, die am Mittwoch mit ihren drei Töchtern floh. Sie ist tief verstört. „Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen“; diesen Satz wiederholt sie immer wieder monoton, während sie im Dorf Burqin auf der Straße sitzt. Flugzeuge und Helikopter hätten Tag und Nacht bombardiert, es gab kein Wasser, Bulldozer walzten die Häuser nieder und hätten darin Tote und Lebende begraben. Fünf Männer seien auf offener Straße exekutiert und einfach liegen gelassen worden; „ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen“, schluchzt die 42-Jährige.

Viele der Männer im Alter zwischen 15 und 42 Jahren, die während der Besetzung Deschenins festgeommen und in umliegende Militärlager abtransportiert worden waren, sind inzwischen wieder frei. Wer nicht auf der Liste der Gesuchten stand, der wurde von der israelischen Armee in den umliegenden Dörfern regelrecht ausgesetzt, manche nur mit der Unterhose bekleidet. Fast 300 von ihnen sind derzeit im Kindergarten des kleinen Dorfs Zbubeh untergebracht. Manche starren nur vor sich ins Leere, andere erzählen, wie sie tagelang mit verbunden Augen und gefesselt auf dem Boden liegen mussten. Als Beweis strecken sie ihre Arme aus und deuten auf ihre entzündeten Handgelenke. Ein junger Mann, der Angst hat, seinen Namen preiszugeben, berichtet, wie er mit verbundenen Augen gefesselt auf der Straße lag und ein Soldat ihm zurief, dass er jetzt von einem Panzer überrollt werde. Er hörte das Dröhnen des Panzers, der erst kurz vor ihm anhielt.

Und was war in Dschenin, bevor sie verhaftet wurden? „Die Israelis haben im Lager auf alles geschossen, was sich bewegt hat, sogar auf die Katzen“, berichtet einer. Wo ihre Familien, ihre Frauen und Kinder sind, das wissen die Männer nicht. Es kommen schlimme Nachrichten. „Der dort drüben hat zum Beispiel vor wenigen Stunden erfahren, dass zwei seiner Brüder tot sind“, sagt einer und deutet auf einen Mann, dessen Gedanken weit entfernt zu sein scheinen. Nur kurz blickt er auf und sagt nur einen Satz, bevor er wieder in sich versinkt: „Diese letzten Tage werden wir den Israelis nie vergessen.“ Inzwischen hat die Armee auch die Dörfer um Dschenin zur Sperrzone erklärt und eine Ausgangssperre verhängt.

Wie viele Palästinenser beim Kampf um Deschenin getötet worden sind, bleibt weiter umstritten. Während die Armee am Freitag von 100 bis 200 Toten sprach, beschränkten sich die Schätzungen von Verteidigungsminister Ben-Elieser auf „einige dutzend“. Die Palästinenser befürchten, die Zahl der Toten könne bei 500 liegen. Am Freitag verbreiteten palästinensische Quellen alarmierende Berichte, die Armee hebe Massengräber aus, in die sie Leichen mit Hilfe von Bulldozern schaufele. Die Zeitung Ha’aretz hatte am Freitag aus Armeekreisen erfahren, nur Leichen, die eindeutig als die von Zivilisten identifiziert würden, dürften von den Angehörigen bestattet werden, während Leichen von „Terroristen“, das heißt von mit Waffen gefundenen Kämpfern, in ein Massengrab im Jordantal gebracht werden müssen.

Inzwischen hat das von arabischen Abgeordneten der Knesset angerufene Oberste Gericht einstimmig entschieden, der Armee obliege die Aufgabe, die Leichen aus dem Lager Dschenin wegzubringen, doch müssten der Rote Halbmond und das Rote Kreuz an ihrer Identifizierung und Bestattung beteiligt sein. Das Gericht untersagte damit das Vorhaben der Armee, Leichen in unmarkierten Gräbern zu bestatten. Die Armee bestreitet vehement, bereits letzte Woche Leichen eingesammelt oder bestattet zu haben. Man räumt ein, dass es auch zivile Opfer gab, gibt die Schuld daran jedoch den „Terroristen“, die die Lagerbevölkerung als Schutzschild missbraucht hätten.

Einen ersten Augenzeugenbericht aus dem Lager Dschenin lieferte der Journalist Zadok Jecheskieli am Sonntag. Der Reporter von Jediot Aharonot hatte sich schon am Donnerstag dort eingeschlichen. Das Lagerzentrum sei dem Erdboden gleichgemacht worden. Er habe keine Toten gesehen, doch liege nahe, dass unter den Trümmern viele Leichen begraben seien. Er habe Beweise dafür, dass Tote weggeschafft und begraben worden seien. Für ein gezieltes Massaker habe er zunächst keine Anhaltspunkte.

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