Provokant gefährlich

Der Philosoph Giorgio Agamben will die Konzentrationslager zu einer notwendigen Folge der Menschenrechte erklären – und scheitert

Demokratien und Diktaturen sind für Agamben strukturell ununterscheidbar

von ULRIKE HERRMANN

Wieso konnten Konzentrationslager entstehen? Mitten in der Moderne, mitten in Europa, nach einem Siegeszug der Menschenrechte? Die nationalsozialistischen Verbrechen sind immer noch ein Rätsel, obwohl es an historischen Erkenntnissen nicht mangelt. Eine provozierende Lösung bietet der italienische Philosophieprofessor Giorgio Agamben an: Menschenrechte und Konzentrationslager seien kein Gegensatz – sondern gehörten untrennbar zusammen. Noch radikaler: Erst die Proklamation der Menschenrechte habe die Lager überhaupt ermöglicht – und zum Paradigma staatlicher Souveränität gemacht. Auch die heutigen Demokratien sind daher letztlich Lager, in der jeder Einzelne auf sein „nacktes Leben“ reduziert wird. Wir leben also nicht nur ganz harmlos in einer hedonistischen Massengesellschaft, sondern in der Finsternis einer Apokalypse. Dies ist eine so irritierende Perspektive, dass über Agambens Studie „Homo sacer“ diskutiert wird, seitdem sie 1995 auf Italienisch erschien. Nun ist sie auch ins Deutsche übersetzt worden.

Agamben ist kein Historiker – er ist Philosoph. Diese Aussage ist nicht so trivial, wie sie wirken könnte. Denn wer philosophiert, unterliegt methodischen Zwängen, die einzigartig sind. Die Philosophie ist eine charmante, aber tückische Wissenschaft: Sie ist nicht empirisch, sondern kommt von „oben“. Sie versucht, wie Kant es formuliert hat und von Agamben zitiert wird, die „Bedingung der Möglichkeit“ zu bestimmen. Die Empirie wird nicht induktiv erforscht, sondern durch deduktive Argumente eingegrenzt.

Daher hat es seinen guten Sinn, dass Giorgio Agamben sein erstes Hauptkapitel „Logik der Souveränität“ nennt. Aber wie lässt sich mit logischen und begriffsanalytischen Argumenten beweisen, dass das Lager notwendig zur Moderne gehört? Es ist ein waghalsiges Unternehmen.

Agamben beginnt mit einem Diktum von Carl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Zugleich sei diese Souveränität die „Bedingung der Möglichkeit“ einer Rechtsordnung. Recht und Staat sind also nicht denkbar ohne den Ausnahmezustand. Diese Sicht übernimmt Agamben, als wäre sie selbstverständlich. Dass sie es nicht ist, scheint er gelegentlich zu ahnen: „Wenn die Ausnahme die Struktur der Souveränität ist, dann ...“ Und wenn nicht? Dieser Gedanke wird nicht weiterverfolgt.

Stattdessen fragt sich Agamben, wie der Schmitt’sche Ausnahmezustand beschrieben werden könnte. Oder genauer: Wer oder was davon eigentlich betroffen ist. Es ist der „Homo sacer“. Dieses „heilige Leben“ ist eine „Figur des archaischen römischen Rechts“, die straflos getötet, aber nicht geopfert werden durfte. Diese „sacratio“ ist zweifellos eine interessante Konstruktion – aber sie war so außergewöhnlich, dass sie selbst den Römern späterer Generationen „dunkel erschien“, wie Agamben zugibt.

Wie kann es also sein, dass eine obskure, längst vergessene Rechtsfigur für Agamben analytisch so interessant wird, dass er ihr ein ganzes Buch widmet? Vier Motive lassen sich vermuten:

1. Der Homo sacer ist schutzlos der Gewalt ausgeliefert und damit auf sein nacktes Leben reduziert. Er wird aus der Gemeinschaft sogar doppelt ausgeschlossen: Da er straflos getötet werden darf, unterliegt er nicht mehr dem Gesetz. Und da er nicht geopfert werden darf, ist er auch von der Religion verlassen. So viel Ausschluss – das erinnert doch stark an die souveräne Ausnahme und muss „mehr als eine einfache Analogie“ darstellen, wie Agamben findet. Daher fragt er sich, ob die „Struktur der Souveränität und die Struktur der sacratio nicht irgendwie verknüpft sind.“ Irgendwie verknüpft – damit beschreibt Agamben seine Argumentationsmuster unerwartet luzide.

2. Aber das Gewaltschicksal des Homo sacer wäre nicht interessant, würde er nicht als erster „Heiligkeit“ und menschliches Leben verbinden. Denn dies ist ja genau die Konstruktion der Menschenrechte, die letztlich für die Konzentrationslager verantwortlich sein sollen.

3. Der Homo sacer erfreut auch, weil er in die Frühphase des römischen Rechts fällt. Damit macht er chronologisch plausibel, was Agamben strukturell behaupten will: dass der Ausschluss, die Ausnahme der Ursprung der Souveränität ist. Da stört es nicht wirklich, dass ein vergleichbares Rechtsinstitut bei den Griechen nicht bekannt ist, obwohl auch diese längst souveräne (Stadt-) Staaten ausgebildet haben. Ganz im Gegenteil:

4. Es ist ein Vorzug des Homo sacer, dass er ein solches Randphänomen war, dass ihn bisher nur wenige Spezialisten für antike Geschichte kannten. Denn das Geheime, Schmitts Arcanum, ist Agambens eigentliches Interesse. Nach dem Motto: Je verborgener eine Struktur ist, desto logischer wird sie. Agamben ist ein Verschwörungstheoretiker der Philosophie.

Der Argumentationsstrang vom Homo sacer bis zum Konzentrationslager ist dann erstaunlich kurz: Der Homo sacer war auf sein nacktes Leben reduziert. Genau dieses nackte Leben wird aber in den bürgerlichen Demokratien als Recht eingefordert. Als ein „Recht auf Leben, auf den Körper, auf die Gesundheit, auf das Glück, auf die Befriedrigung der Bedürfnisse“, wie Foucault zitiert wird. Durch die Menschenrechte, so Agamben, wurde das nackte Leben erstmals politisch. Was im archaischen Rom Ausnahme und gewalttätige Ausgrenzung war, wird nun zum Zentrum staatlicher Intervention gemacht. Die Ausnahme wird die Regel – und genau dies kennzeichnet die Konzentrationslager, in denen „alles möglich war“ (Hannah Arendt). Demokratien und totalitäre Systeme werden somit strukturell ununterscheidbar; sie alle kreisen um die Biopolitik.

Und für Agamben besonders bedrohlich: Die Biopolitik erfasst immer neue Lebensbereiche etwa durch die Revolution der Medizintechnik. Was im Nationalsozialismus die Eugenik war, das ist heute der Versuch, den Hirntod zu definieren. Zwischen einem KZ-Häftling und einem Komapatienten besteht demnach kaum ein Unterschied. Inzwischen sind wir alle potenzielle Lagerbewohner, „virtuelle homines sacri“, sagt Agamben. Und schränkt dann ein: „vielleicht“. Sogar er selbst scheint seinen logischen Operationen nicht ganz zu trauen. Zu Recht.

Wie sich die Konzentrationslager letztlich erklären lassen, bleibt eine Frage. Agamben jedenfalls liefert keine Antwort, sondern tarnt unbegründete Hypothesen. Dies ist nicht ungewöhnlich in der Philosophie – was Agamben jedoch gefährlich macht, sind die impliziten politischen Konsequenzen seines Eklektizismus. Wenn Demokratie und Diktatur nicht mehr unterscheidbar wären, wie Agamben behauptet, warum sollte eine Gesellschaft dann gegen den Rechtsradikalismus mobilisieren?

Giorgio Agamben: „Homo sacer. Die sourveräne Macht und das nackte Leben“, 208 Seiten, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002, 10 €