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Der keltische Tiger lahmt

aus Dublin RALF SOTSCHECK

Dass er wiedergewählt wird, steht außer Zweifel. Die irischen Wähler, jedenfalls ein großer Teil von ihnen, mögen ihren Premierminister Bertie Ahern. Ob seine Partei Fianna Fáil, die „Soldaten des Schicksals“, nach den morgigen Wahlen jedoch erneut eine lästige Koalition mit einer Kleinpartei eingehen muss oder zum ersten Mal seit 1977 allein regieren darf, ist ungewiss.

Der Zeitpunkt für die Wahlen ist günstig für den „Taoiseach“, den Häuptling, wie die offizielle Amtsbezeichnung lautet: Die Tage werden länger, die Temperaturen steigen, und die Iren dürfen zum ersten Mal seit acht Jahren wieder an einer Fußballweltmeisterschaft teilnehmen. Und was Nordirland angeht, so stagniert der Friedensprozess zwar, doch zumindest schweigen die Waffen. Dieser Friedensprozess hat freilich auch Sinn Féin, den politischen Flügel der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), salonfähig gemacht. Die „Urmutter der irischen Parteien“ rechnet sich mehr aus als den einen Sitz, den sie bisher hat.

Irlands Parteienlandschaft ist ein Produkt von Spaltungen. Fast alle Parteien gehen auf IRA und Sinn Féin („Wir selbst“) zurück. Nach dem Teilungsvertrag 1922 spalteten sich Sinn Féin und IRA. Es kam zum Bürgerkrieg. Aus den Vertragsgegnern ging später Fianna Fáil hervor, aus den Vertragsbefürwortern Fine Gael, der Stamm der Gälen.

Fianna Fáils bisheriger Koalitionspartner, die Progressiven Demokraten, haben sich 1985 von Fianna Fáil abgespalten. Alle drei Parteien unterscheiden sich in ihren konservativen ökonomischen und politischen Zielsetzungen nur wenig, aber das kollektive Gedächtnis der Iren ist lang, und so ist an einen Zusammenschluss nicht zu denken.

Die Labour Party ist keine Abspaltung von IRA und Sinn Féin, doch sie fusionierte vor zwei Jahren mit der Democratic Left, die sich 1970 von Sinn Féin und IRA getrennt hatte. Die Labour Party gehört nicht nur zu den konservativsten, sondern auch zu den schwächsten sozialdemokratischen Parteien Europas. Die Grünen werden höchstens zwei oder drei Sitze ergattern.

Aufgrund des komplizierten Wahlsystems (s. Hintergrund) haben unabhängige Kandidaten in manchen Wahlkreisen gute Chancen, denn irische Politik ist in erster Linie Lokalpolitik. Die Wähler entscheiden sich nicht für ein politisches Konzept, sondern für einen Kandidaten, der sich um die lokalen Angelegenheiten seines Wahlkreises kümmert. Das Wahlsystem bietet freilich auch Ausländerfeinden, die es neuerdings in Irland gibt, eine Chance. In einigen Städten, in denen Asylbewerber untergebracht sind, die im Zuge des irischen Wirtschaftswunders auf der Grünen Insel Zuflucht gesucht haben, kandidiert eine Anti-Immigrations-Partei. Doch auch so mancher offizielle Fianna-Fáil-Kandidat spielt die rassistische Karte, weil so an die Fleischtöpfe gelangen zu können glaubt.

Lukrativ ist der Job eines Politikers allemal, denn es winken Nebeneinkünfte. Zahlreiche hochrangige Politiker sind in Bestechungsskandale und Steuerbetrügereien verwickelt. Am tiefsten fiel der frühere Fianna-Fáil-Premierminister Charles Haughey, der in seiner Amtszeit Ländereien, maßgeschneiderte Hemden und Pariser Seidenstrümpfe anhäufte – alles auf Staatskosten. Dieser Fall und und andere sind seit Jahren Gegenstand von Tribunalen. Es ist Aherns Glück, dass in absehbarer Zukunft mit keinem Ergebnis zu rechnen ist, denn er war Haugheys Finanzminister und zeichnete die Schecks seines Chefs ab.

Aber auch aus einem anderen Grund kommen die Wahlen gerade noch rechtzeitig für Fianna Fáil. Wichtigstes Regierungsargument ist die Wirtschaft, die auf den ersten Blick überaus gesund erscheint. Seit 1994 sind die Wachstumsraten höher als in jeder anderen westlichen Industrienation, meist lagen sie sogar im zweistelligen Bereich, was Irland in Anlehnung an die expandierenden asiatischen Ökonomien den Spitznamen „keltischer Tiger“ eingebracht hat.

Doch der Tiger lahmt allmählich. Das Wirtschaftswunder war allein den US-Firmen zu verdanken, die ein Standbein in der EU bekommen wollten. Irland gehört zur Eurozone, die Arbeitnehmer sprechen Englisch und sind billig. Hinzu kommt die niedrige Körperschaftsteuer von 10 Prozent. 40 Prozent der US-Investitionen in Europa gingen in den letzten zehn Jahren nach Irland, sie haben sich in den Neunzigern vervierfacht, die der irischen Unternehmen sind um ein Drittel zurückgegangen.

Dadurch enstand eine duale Wirtschaft: Neben den dynamischen US-Unternehmen existiert eine wenig profitable einheimische Ökonomie. Die Rezession in den USA, die bereits vor dem 11. September einsetzte, hat Irland daher hart getroffen. In diesem Jahr prophezeien die Experten ein Nullwachstum.

Was bleibt vom keltischen Tiger übrig? Nicht viel, sagt Wirtschaftsexperte Denis O’Hearn: „Die Nutznießer des Wirtschaftswachstums und der Sozialpolitik des keltischen Tigers waren die wohlhabenderen Bevölkerungsschichten. Die Ungleichheit hat zugenommen, und die Regierungen waren nicht fähig oder willens, ihre umfangreichen Mittel zum Wohle des Volkes einzusetzen.“ Bezüglich der Einkommensdifferenz zwischen den reichsten und den ärmsten 10 Prozent sei Irland heute das Land in Europa mit der größten Spanne, sagt O’Hearn. Außerdem gibt es in Irland doppelt so viele Niedriglohnarbeiter wie im Rest der EU und fünfmal so viele wie in Skandinavien. Irland hat mit 15,3 Prozent unterhalb der Armutsgrenze lebenden Menschen die höchste Armutsrate in der EU.

„Das Skandalöseste ist“, sagt O’Hearn, „dass die Regierung aufgrund des Wirtschaftswachstums enorme Mittel zur Verfügung hatte, mit denen sie Jahre heruntergefahrener Sozialleistungen hätte auffangen und den Wohlstand des irischen Volkes hätte mehren können. Darin hat sie kläglich versagt.“ Im Gesundheitswesen hat Irland die Ausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt zwischen 1980 und 1996 um 20 Prozent gesenkt. Innerhalb der OECD liegt das Land auf dem letzten Platz, was die Ausgaben pro Schüler im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt pro Kopf betrifft.

Die Quittung dafür wird Fianna Fáil jedoch erst bei den Wahlen in vier Jahren erhalten, wenn sich der keltische Tiger endgültig von der Insel verabschiedet hat.

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