: Bremen nach 2005
Bremen darf den Kopf nicht in den Sand stecken vor dem Tag „X“, an dem das Scheitern der Sanierung der Staatsfinanzen festgestellt wird. Was zu tun bleibt, analysiert der Jurist ■ Prof. Erich Röper vom Zentrum für Europäische Rechtspolitik an der Universität Bremen.
Bremens Schuldenfalle
(...) Bei Einnahmen der laufenden Rechnung von DM 5 Mrd. für das Bundesland Bremen (ohne Bremerhaven) entsprechen die offiziellen Schulden von über DM 16 Mrd. trotz der Vermögensveräußerungen heute etwa denen zur Zeit des BVerfG-Urteils vom 27.5.1992, zusammen mit den Schulden der staatlichen Eigenbetriebe über DM 18 Mrd. Sie wurden nicht vermindert entgegen den Vorgaben des Finanzausgleichsgesetzes (§ 11 VI Nrn. 1, 2 FAG). NAch den Angaben des Senats konnte ein hoher Anteil der konjunkturbedingten Mindereinnahmen von rund DM 6 Mrd. „nur durch zusätzliche Kreditaufnahmen bewältigt werden und führte im Saldo von Kreditaufnahme und Sanierungszahlungen somit zu einem gegenüber den Planwerten des Sanierungsprogramms geringeren Schuldenabbau“ . Trotz Sanierungsmitteln betrug die Nettokreditaufnahme im Zeitraum 1994/2000 1.435 Millionen Mark.
Mit dem Haushalt 2002/2003 sollen die offiziellen Schulden 2002 um DM 540 Mio. steigen, sie sollen 2005 DM 19 Mrd. erreichen. Von da an sollen jährlich etwa DM 1 Mrd für Investitionen aufgenommen werden. Damit erreichen die offiziellen Schulden 2010 DM 25 Mrd., die Zinsen steigen auf über eine Milliarde ohne die Schulden der Betriebe. Das verletzt Art. 104 EGV: Das Protokoll zum Maastricht-Vertrag über das Verfahren bei übermäßigem Defizit legt fest, die öffentliche Neuverschuldung des Mitgliedstaats - Zentralstaat, regionale, lokale Gebietskörperschaften und Sozialversicherungsträger zusammen - dürfe 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten, gleich ob sie für konsumtive oder investive Zwecke aufgenommen werden. (...)
Die mittelfristige Finanzplanung sieht für einen verfassungskonformen Etat (Art. 131a S. 2 LV) vor, die Finanzierungslücke von 2001 DM 930 Mio. im konsumtiven‘ Haushalt (2000 DM 4.575,6 Mio.) bis 2005 durch Einnahmeerhöhungen zu schließen und den „Verwaltungs-Haushalt“ auszugleichen, obwohl allein die Personalausgaben um fast DM 200 Mio. steigen werden. „Durch systematische aufgabenkritische Verfahren unter Begleitung externer Berater wird im Stadtstaat fortlaufend und flächendeckend an einer Neustrukturierung und Begrenzung der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung gearbeitet“. Diese Kürzung der „aus der Nettokreditaufnahme finanzierten konsumtiven Ausgaben“ ist aber nicht realisierbar. (...)
Die Bemühungen beschränken sich darauf, „dass die für die Haushalte notwendige Nettokreditaufnahme (Finanzierungsdefizit) den Betrag der gleichzeitig getätigten Netto-Investitionen nicht übersteigen darf“. Alles andere weicht der Reduzierung, dem Wegfall und/oder der privatrechtlichen/-wirtschaftlichen Umstrukturierung öffentlich wahrgenommener Aufgaben, wozu eine Staatsräte-Lenkungsgruppe „Neuordnung der Aufgabenwahrnehmung“ mithilfe externer Berater Ressortstrategien zur erforderlichen Einhaltung der Eckwerte im Endjahr der Sanierung entwickelt und umsetzt. Massive Proteste kommen wegen der unabsehbaren und unerträglichen gesellschaftlichen Folgen aus allen Bereichen gegen Ziel und Inhalt des Sparprogramms, das - mit hohen Investitionen in Großprojekte - ein Fehlschlag genannt wird, wobei die marktbeherrschende Presse den Widerstand und die Alternativen der Opposition zu den kostenträchtigen Megaprojekten der Großen Koalition marginal berichtet. Da die Einschnitte noch tiefer werden sollen, ist zweifelhaft, ob es der Bevölkerung die Selbständigkeit wert ist, zumal das BVerfG am 11.11.1999 für einen Einigungvertrag mit Niedersachsen befristete Sonder-Bundesergänzungszuweisungen erlaubte. (...)
Bremens Finanzschwäche
Bremen ist 2005 zahlungsunfähig, werden die Fehlbeträge im Haushalt nicht mehr durch Sonder-Bundesergänzungszuweisungen ausgeglichen. Die Einnahmeerhöhung aus dem bundesstaatlichen Finanzausgleich ist mit DM 56 Mio. gering. Der in der Finanzplanung ab 2005 mit DM 391,2 Mio. veranschlagte Ausgleich der Steuerreformeffekte steht noch aus. Andere Einnahmesteigerungen sind trotz des durch die Sicherung des Eigenbehalts in § 2a MaßstG geringfügig modifizierten Finanzausgleichssystems nicht zu erwarten. Unrealistisch ist die vorgesehene Kürzung des konsumtiven Haushalts. Der Senatsjahresbericht 2000 zur Sanierung der bremischen Haushalte zeigt durch die hohe Abhängigkeit der Gesamtbilanz „von Ausgleichszahlungen des Bundes und der Länder - einschließlich deren streuenden Fälligkeiten - sowie die anhaltenden Verluste des Landes aus der überwiegend nach Einwohnern und demnach nicht nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verteilten Umsatzsteuer nachdrücklich die Problematik, die sich für Bremen aus der systematischen Benachteiligung im Rahmen der Steuerverteilung unverändert bzw. verschärft ergibt“ . (...) Kaum zu bewältigende Hürden sind Zinsen und Sozialhilfelasten von jeweils über DM 1 Mrd. p.a.
Für Strukturveränderungen vom grundgesetzwidrigen Personalvertretungsrecht bis zur Bildung kommunaler Ämter zur Trennung der Zuständigkeiten von Land und Stadt Bremen fehlt die Bereitschaft, Besitzstände aufzugeben, den politischen und exekutiven Überbau der Kleinheit des Landes anzupassen und gemeinsame Behörden vor allem mit Niedersachsen zu schaffen. Mühsam einigten sich die Parteien, die Abgeordnetenzahl ab 2003 von 100 auf 83 zu senken, deren Diäten höher sind als in Hamburg. Die zusätzlich 62 Deputierten, deren Diäten von DM 815,- sowie Sitzungsgeld und Erwerbsausfall andernorts der Entschädigung von Stadtverordneten entsprechen, werden beibehalten, die in der Volksabstimmung 1994 beschlossene Abschaffung der Deputationen haben die Parteien per Verfassungsänderung 1998 rückgängiggemacht. Zudem führt das Deputations-System zur (Partei-) Politisierung normaler Verwaltungskonflikte und stärkt die in allen Kommunen drohende Verfilzung .
Beispielhaft für fehlende Kooperationsbereitschaft ist die Justiz. „Die bremischen Fachgerichte sind kleiner als in allen anderen Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Dies gilt für die Obergerichte wie für die Gerichte erster Instanz.“ Außer dem Landessozialgericht wird aber kein Fachgericht mit dem Niedersachsens zusammengelegt: „Weil das Oberverwaltungsgericht eine Vielzahl von Entscheidungen zu treffen hat, die für den Standort Bremen von zentraler Bedeutung sind. Diese Entscheidungen sind für die Selbständigkeit des Landes und seine Entwicklung so bedeutsam, dass sie von einem eigenständigen bremischen Gericht in Bremen selbst getroffen werden sollten.“
Wie Bremensien verteidigt werden
Beim Finanzgericht, „weil in diesem Bereich die Rechtsprechung unmittelbar steuerpolitische Interessen des Landes berühren kann, soll das Finanzgericht als bremisches Gericht bestehen bleiben“. Zusammenfassend: „Im übrigen sollte insofern eine flächendekkende gemeinsame Aufgabenwahrnehmung mit Niedersachsen auch deshalb nicht angestrebt werden, weil dies zumindest in einem Teilbereich einer faktischen Aufgabe der Selbständigkeit Bremens nahe käme“. „Das heißt nichts anderes, dass einem in Hannover sitzenden gemeinsamen Gericht eine unabhängige Rechtsprechung nicht zugetraut wird. Und umgekehrt, nur ein rein Bremer Gericht die Interessen des Standorts wahren würde - und wer definiert die wohl?“, fragte der Abgeordnete Hermann Kuhn in der Bremischen Bürgerschaft. Das Misstrauen gegen Niedersachsen wird deutlich.
Staatsrat Hoffmanns Überlegungen für eine Regionalkörperschaft Bremen-Unterweser erfuhren in Bremen mehr Unverständnis als Widerstand in den Umland-Gebietskörperschaften; sie lehnen die staatsrechtliche Verfassung mit Übergewicht Bremens ab und treten für einen Regionalverband auf kommunalrechtlicher Basis ein. Der Vorschlag von B 90/Grüne im Landtag Niedersachsen für eine verbindliche formelle gemeinsame Landesplanung statt bisher informeller Planung wurden nicht aufgegriffen. Es gibt keine effektive Kontrolle der Neben- und Schattenhaushalte und fast 300 formal privatisierten öffentlichen Betriebe; in verfassungskonformer Auslegung des Beleihungsgesetzes hält der Bremische Staatsgerichtshof die Übertragung öffentlicher Ausgaben auf privatrechtliche Gesellschaften nur in sehr engen Grenzen für zulässig und mahnt in dem von B 90/Grünen erwirkten Urteil zwingend die effektive parlamentarische und exekutive Kontrolle (Fachaufsicht) an.
Die Einwohnerzahl wird sinken
Vor allem aber stellt das vom BVerfG aus dem Grundgesetz abgeleitete „abstrakte Kriterium der Einwohnerzahl, das zugleich einen abstrakten Bedarfsmaßstab bildet“ (C.II.2.a.) die Selbständigkeit strukturell in Frage: „Nach wie vor problematisch gestaltet sich die Entwicklung der Einwohnerzahlen innerhalb der Landesgrenzen, deren Stabilisierung und Ausbau für die Sanierung der bremischen Haushalte von entscheidender Bedeutung ist... Anreize zur Beibe-haltung des Wohnsitzes innerhalb der Landesgrenzen und kompensierende Zuwanderungen aus dem übrigen Bundesgebiet wurden noch nicht hinreichend ausgelöst“. Der aktualisierte Finanzrahmen 2001/ 2005 aber „unterstellt - über die Setzungen der Steuerschätzung - eine Konstanz der bremischen Einwohnerzahlen. Von dieser Annahme abweichende Bevölke-rungsentwicklungen beeinflussen sowohl das Niveau der steuerabhängigen Einnahmen als auch die Höhe der einwohnerabhängigen Versorgungs-Ausgaben.“
Dazu enthält die Senatsvorlage zur Bildung der Eckwerte für die Haushalte 2002/2003 Berechnungen. Doch ist der überproportionale Einwohnerverlust in der Finanzplanung nicht eingebaut; er wirkt sich we-gen der Veredelung noch um ein Drittel stärker aus als in den Flächenländern.
Deutschlands Einwohnerzahl wird bis 2050 auch bei realistischer Zuwanderung von jährlich 200.000 Personen (10,2 Mio.) um 11.655.600 (14,2 Prozent) auf 70.381.400 sinken - nicht überall gleich, was mutatis mutandis für strukturschwache Gebiete der Flächenländer gilt. Bei den Stadtstaaten wirkt der Trend zur Suburbanisierung. Doch ist der Fortzug aus Hamburg bis 2015 je nach der Variante mit 40.000 oder 75.000 geringer als in Bremen: 50.500 oder 62.800. Doch gibt es im Land Bremen auch in guten und sehr guten Wohngebieten eine durch die Einsparungen im konsumtiven Bereich gesteigerte Unzufriedenheit mit dem Wohnumfeld und daraus resultierend die Bereitschaft wegzuziehen . (...)
Länderfusion ist zwingend
Zweifellos gab/gibt es viele Sanierungsbemühungen. Motivierte und qualifizierte Mitarbeiter mach(t)en gute Vorschläge zur Linderung der Haushaltsprobleme. Der Erfolg kann hier nicht bewertet werden, ebensowenig die Sinnhaftigkeit der Investitionsvorhaben oft unter Verzicht auf günstigere Alternativen. Hier geht es um die Zahlen, die eine Aussage über Bremens Finanzlage nach dem Ende der Bundeshilfen 2005 erlauben. Sie lassen nicht erkennen, dass man von weiterer Selbständigkeit ausgehen kann, vielmehr erscheint die Vereinigung mit Niedersachsen zwingend.
Aufgabe realistischer Politik wäre, die Menschen über die Lage aufzuklären, sich mit Hannover über die Stellung und Aufgaben Bremens/Bremerhavens in der westlichen Landeshälfte zu verständigen, den Erhalt (verfassungs-)rechtlicher Spezifika Bremens zu vereinbaren und mit dem Bund zu verhandeln, um Niedersachsen durch Sonder-Bundesergänzungszuweisungen von wohl über DM 10 Mrd. in den Stand zu setzen, sich mit dem überschuldeten aber strukturell reichen Land Bremen zu vereinigen und den Finanzausgleich wie für Berlin/Brandenburg 15 Jahre fortzuführen. Dann wären das Bundesgesetz nach Art. 29 II GG und die Volksabstimmung nach Art. 29 III GG vorzubereiten und umzusetzen.
Dazu gehören geeignete politische Schritte Niedersachsens. Da Hamburg zwar unter 20 Prozent der NDR-Gebühren aufbringt, dort aber 80 Prozent der Mittel ausgegeben werden, würde allein der Austritt Niedersachsens aus dem NDR und die Bildung einer sehr lebensfähigen Landesrundfunkanstalt mit Bremen Gebühren von über DM 800 Mio. in das gemeinsame Land bringen, mehr als der kumulierte horizontale Länderfinanzausgleich.
Da kein Land so überschuldet ist wie Bremen, führt seine Vereinigung mit Niedersachsen nicht zur generellen Neugliederung der Länder. Auch die Bildung Thüringens aus acht Kleinstaaten und Übertragung Coburgs an Bayern 1920 oder die Aufnahme der nicht mehr lebensfähigen Länder Pyrmont 1922 und Waldeck 1928 durch Preußen lösten die in Art. 18 WRV vorgesehene Neugliederung des Deutschen Reichs nicht aus. Zum Besten der Metropolregion Bremen/Unterweser würde ein Einzelproblem gelöst, das nicht die negativen Auswirkungen auf die Landesstrukturen und sozioökonomische Entwicklung dünn(er) besiedelter ärmerer Landesteile hat wie die Zusammenlegung Hamburgs mit Schleswig-Holstein oder Berlins mit Brandenburg und der Dualismus des reichen, dicht besiedelten Rhein-Main-Gebiets zum dünner besiedelten ärmeren Nord-Hessen. Bremen/Bremerhaven können mit langer Geschichte, republikanischen Traditionen und überproportionaler Wirtschaftskraft im Westteil Niedersachsens, zumal nach kommunaler und regionaler Gebietsreform, wichtige regionalpolitische Aufgaben mit den übrigen Gebietskörperschaften mit mehr Dynamik erfüllen als beim heutigen finanzpolitischen Taumeln bei der Suche nach fortdauernder (Schein-) Selbstständigkeit. Bürgermeister Henning Scherfs wiederholtes Eintreten für Bremen als Hauptstadt Nordwestdeutschlands ist eine progressive Initiative für seine bessere Zukunft. Zugleich wird das vergrößerte Niedersachsen seine Position unter den Ländern wesentlich verbessern. Die dafür nötige Diskussion soll hiermit angeregt werden.
Anmerkung der Redaktion: Wir dokumentieren hier Auszüge des verfassungsrechtlichen Aufsatzes von E. Röper, der in den „Niedersächsischen Verwaltungsblättern“ (im Boorberg-Verlag) erschienen ist. Insbesondre die Fußnoten, die fast die Hälfte der Druckseiten in der Zeitschrift ausmachen, haben wir weglassen müssen. Da werden die Argumente mit weiterem Zahlenmaterial und Fundstellen belegt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen