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Chaosforscher in der Hölle

Todd Husak spielt mit dem Football-Team von Berlin Thunder diese Saison in der NFL Europe und hat sich den anspruchsvollsten Job ausgesucht, den der Profisport zu bieten hat: Er ist Quarterback

von THOMAS WINKLER

Sonst ist da einfach eine weiße Wand. Eine weiße Wand in einem schmucklosen Raum im Erdgeschoss eines Vier-Sterne-Hotels vor den Toren Berlins. Jetzt aber, an diesem späten Nachmittag, sind die Vorhänge zugezogen und sperren den ersten wirklich heißen Tag des Jahres aus. Auf der weißen Wand ist nun ein Standbild zu sehen, ein roter Lichtpunkt zuckt hin und her und drei Männer sprechen in fremden Zungen.

Peter Vaas ist Headcoach von Berlin Thunder, Todd Husak und Tim Hasselbeck sind die Spielmacher des Football-Teams der Hauptstadt. Der Raum mit der weißen Wand ist jetzt ein Klassenzimmer, Vaas zum Lehrer geworden, die beiden Quarterbacks zu Schülern. Auf der weißen Wand sind kurze Ausschnitte eines Spiels von Rhein Fire zu sehen, dem in Düsseldorf beheimateten nächsten Kontrahenten von Thunder. Vaas zeigt einen Spielzug, spult zurück, lässt ihn noch einmal ablaufen, weist mit dem Laserpointer auf Einzelheiten, spult fünfmal zurück, sechsmal, dann wechselt die Kameraperspektive, immer noch dieselbe Szene, wieder geht es vor und zurück.

Twenty-Three Naked

Es ist offensichtlich: Irgendetwas an diesen wenigen Sekunden aus einem längst vergangenen Spiel finden die drei Männer sehr interessant. Nur: Ihr Sprechen darüber verrät nicht, was das sein könnte. „Bounce Cross“ sagen die Münder oder „Twenty-Three Naked“, „Flex“ oder „Smash“, „Swing Play“ oder „Three Under Three Deep“. Ein Blick ins Wörterbuch hilft da nicht weiter. Vaas und seine beiden Spielmacher diskutieren die Verteidigungsreihe von Rhein Fire und welche Spielzüge der Angriff von Thunder am morgigen Sonntag gegen am besten anwenden sollte. „Dritter Versuch und fünf Yards?“, fragt Vaas. Husak und Hasselbeck antworten in einem Kauderwelsch aus Codewörtern, die Aufstellungen, Blockschemata, Laufwege und Passrouten beschreiben. Diese Terminologie ist eine Geheimsprache und in fast jeder Mannschaft wird ein anderer Dialekt gesprochen. „Wir sind eine Mischung aus Sportler und Wissenschaftler“, sagt Husak, „wir forschen und analysieren.“

Am Spieltag bleiben dem Quarterback vielleicht drei, höchstens vier Sekunden für die Analyse. Mehr Zeit, den Ball wieder loszuwerden, hat er nicht, bevor 130 Kilo schwere Verteidiger sich auf ihn stürzen. In dieser Zeit muss er hin und her fliegende Leiber sortieren, die richtige Entscheidung treffen und schließlich noch einen exakten Pass werfen. Er muss das Chaos lesen. „Bei der Videoanalyse zu erkennen, was zu tun wäre, das ist einfach“, sagt Vaas, „aber kann man es noch erkennen, wenn die Hölle um einen herum losbricht?“

Der ideale Quarterback hat also nicht nur den Armzug von Jan Zelezny und die Genauigkeit eines Dart-Profis. Er braucht nicht nur den Antritt eines Sprinters, die Übersicht eines Zidane, Effenbergs Führungsqualitäten und von Oliver Kahn die Rücksichtslosigkeit gegen den eigenen Körper. Er muss nicht nur damit klarkommen, als Aushängeschild seines Teams in der Öffentlichkeit zu stehen, sondern muss zudem auch noch überdurchschnittlich intelligent und fleißig sein. Ist Quarterback also der anspruchsvollste Job, den der Profisport zu bieten hat?

Husak, der an der Elite-Uni Stanford Politikwissenschaften studiert hat, sollte es wissen. Schließlich hat er in der NFL Europe, dem Ableger der erfolgreichsten Profiliga der Welt, bislang so viele Yards erworfen wie niemand sonst in dieser Saison, früher auch Baseball und Basketball gespielt und in der High-School sogar ein wenig Fußball, wenn auch „ziemlich schlecht“. Seine Antwort ist ein eindeutiges „Ja“. Sein Coach komplettiert die Arbeitsplatzbeschreibung: „Das Wichtigste für einen Quarterback ist es, dass ihn eine Siegeraura umgibt“, sagt Vaas, im College selbst als Quarterback aktiv, „ein Spieler kann alles Talent der Welt besitzen, wenn er diese Selbstsicherheit nicht ausstrahlt, wird er nie ein sehr guter Quarterback werden. Aber das kann man niemandem beibringen, damit wird man geboren.“

Die Kamera sieht alles

Alles andere kann man lernen: Todd Husaks Tag beginnt um 6.45 Uhr. Nach dem Frühstück steht die erste Taktikbesprechung an. Von 10.15 bis 12.15 Uhr wird auf einem Platz vor dem Olympiastadion das zuvor Besprochene praktisch umgesetzt. Das Training wird von zwei Videokameras aufgezeichnet. Nach dem Mittagessen gehen die meisten Spieler in den Kraftraum. Die Quarterbacks haben am frühen Abend eine zusätzliche Besprechung mit dem Headcoach, bei der das Training anhand der Videoaufnahmen oder der kommenden Gegner analysiert wird. Neben diesem offiziellen Programm wird von den Quarterbacks erwartet, dass sie selbstständig weitere Videoanalysen betreiben.

„Manchmal“, sagt Vaas, „denke ich, wir übertreiben die Vorbereitung.“ In anderen Mannschaften allerdings ist das Programm eher noch umfangreicher, wird noch mehr Wert auf eine detaillierte Taktik gelegt. Die meisten Trainer sind Kontrollfreaks, die so wenig wie möglich dem Zufall überlassen wollen. So wird das Playbook, in dem alle Spielzüge beschrieben sind, zur Bibel, das bei manchem Team so dick wie ein Telefonbuch werden kann. Zu lernen sind Wortkaskaden wie „Ax Double Right Spear Larry 735 H Split Right Pump“ oder „Jack Right Slot Scat Right 370 Pump F-Shoot Swing“. Aber es funktioniert auch einfacher: Im Repertoire von Berlin Thunder befindet sich ein Spielzug namens „Shirley“, bei dem alle potenziellen Passempfänger zuerst Richtung gegnerische Endzone laufen und dann abrupt wenden. Aufgemalt erinnern die Laufwege an die berühmten Locken der Schauspielerin Shirley Temple.

„Im College hatten wir ungefähr 150 Spielzüge“, erzählt Todd Husak, „in der NFL ist es mindestens das Doppelte.“ Kein Wunder also, dass Quarterbacks Jahre brauchen, um das Playbook auswendig zu lernen und mit den Jahren meist immer besser werden. „Warum?“, fragt Vaas. „Die Antwort ist Erfahrung. Das Spiel verlangsamt sich für sie und sie können besser reagieren.“ Um diese Erfahrung zu sammeln, sind der 23-jährige Husak und der vier Monate ältere Kollege Hasselbeck von ihren NFL-Teams nach Europa geschickt worden. „Ich lerne hier, unter Druck zu spielen, schnell die richtige Entscheidung zu treffen“, sagt Husak, „auf der Ersatzbank wird einem das nicht beigebracht.“ So hat manches hoffnungsvolle Talent nie den Sprung vom College zu den Profis verkraftet. Andererseits mussten viele gute Quarterbacks erst seltsamste Umwege gehen. Prominentestes Beispiel ist Kurt Warner von den St. Louis Rams, der als momentan bester NFL-Quarterback gilt, aber zeitweise in einem Supermarkt jobben musste, als seine Karriere ins Stocken geriet.

Auch Warner holte sich wertvolle Spielpraxis in der NFL Europe. Weil die Teams jedes Jahr neu zusammengewürfelt werden und die Vorbereitungszeit gerade mal drei Wochen lang ist, sind die hier gespielten Systeme allerdings bei weitem nicht so kompliziert wie in der echten NFL. „Ich will aus den Spielern keine Roboter machen, wir lehren Konzepte“, formuliert Vaas sein Credo. Die Anzahl der Spielzüge ist eher gering, aber dafür gibt es sehr viel mehr Variationen von möglichen Laufwegen und Passrouten. Vaas überlässt seinen Quarterbacks mehr Verantwortung als üblich und der Erfolg gibt ihm Recht. Thunder gewann im letzten Jahr das Endspiel der NFL Europe. Der entscheidende Touchdown kam durch einen Spielzug zustande, der so in keinem Playbook stand. „Ich gebe meinen Spielern gern die Freiheit zu improvisieren“, verkündete Vaas nach dem World-Bowl-Sieg, „das Schlimmste wäre es, ihnen Handschellen anzulegen.“

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