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Zu töten vergessen

Zeugenaussage im Prozess gegen Friedrich Engel belastet den SS-Chef von Genua schwer: „Für mich ist Engel schuldig“

Beim zweiten Appell riefen die SS-Wärtern im Genueser Marrassi-Gefängnis seine Häftlingsnummer nicht wieder auf. Nur diesem Fehler verdankt Raimundo Ricci, dass er am 19. Mai 1944 nicht von SS- und Marineeinheiten an den Turchino-Pass deportiert und erschossen wurde. „Vergessen oder verwechselt?“, der Italiener kann nur vermuten. Er sagte gestern als Zeuge im NS-Kriegsverbrecher Prozess gegen Friedrich Engel vor dem Hamburger Landgericht aus.

Aber eins weiß der ehemalige Partisan und heutige Pensionär aus Genua genau: „Das SS-Außenkommando hat die Erschießungen verantwortet. Für mich ist der Chef des Kommandos Engel schuldig.“ Ricci berichtet: Nachdem am 8. September 1943 die italienische Armee vor dem einstigen Bündnispartner Deutsche Wehrmacht kapituliert hatte, entschied Ricci sich, zu den Partisanen in die Berge zu gehen. Zwei Monate lang organisierte der frühere Marineoffizier den bewaffneten Kampf in der Region Imperia, bevor ihn eine SS-Einheit festnahm und später in die SS-Abteilung 4 des Gefängnisses von Genua brachte. Im Juni 1944 wird er ins Vernichtungslager Mauthausen in Österreich verschleppt, wo er bis zur Befreiung überlebt.

Die Nacht auf den 19. Mai hat Ricci in schmerzlicher Erinnerung: „Gegen halb drei hörte ich viele Stimmen, Motorengeräusche und Befehle.“ Häftlingsnummern wurden gerufen und „ohne Gepäck“ aus den Mehrpersonenzellen befohlen. „Da ahnte ich, dass wir nicht verlegt werden sollten.“ Wie 59 Mithäftlinge tritt er an. Doch dann fällt seine Nummer nicht mehr. „Ich ging in die Zelle zurück und legte mich wieder auf die Pritsche.“ Eine Stunde wartet er, hört die weiteren Aufforderungen zum Abtranstport, bis er weiß: „Ich werde jetzt nicht sterben.“ Als Udo Kneip, Engels Verteidiger, nachfragt, wiederholt Ricci: „Organisation und Initiative für die Erschießung konnte nur vom der SS und dem SD ausgehen.“ Dies würde auch der Bericht des jüdischen Häftlings Julio Jona belegen, in dem der später in Auschwitz Getötete beschreibt, wie er zusammen mit anderen jüdischen Häftlingen unter Befehl eines SS-Unteroffiziers eine Grube für die Erschießung ausheben musste.

Diese Quelle und die Aussagen von Ricci zur Befehlsgewalt Engels, zweifelt Kneip an: „Er war nicht dabei.“ Diese Zweifel könnte der für Freitag geladene Zeuge Walter Emig ausräumen. Vergangene Woche hatte der frühere Oberbootsmaat der 23-U-Boot-Jagdflotille in Genua gegenüber dem „Darmstädter Echo“ berichtet, dass Engel bei der Erschießung ein „eiskalter Hund“ war und einem Untersturmbannführer befohlen hätte, in die Grube zu steigen, um den angeschossenen Opfern den „Fangschuss“ zu geben. Dieser soll aber so gezittert haben, das er den Befehl nicht befolgen konnte. „So ein Schlappschwanz“, erzählt Emig, hätte Engel da gespottet. ANDREAS SPEIT

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