: Unter die Erde muss jeder
Es gibt keine Angehörigen, die einen zur letzten Ruhe geleiten, und es gibt kein Kreuz oder Schild oder ein anderes Zeichen, das zeigt, dass hier jemand begraben liegt. Eine Sozialbestattung geht still und schnell vor sich wie eine Aufräumarbeit im Garten
von KIRSTEN KÜPPERS
Wenn kein Geld da ist, dann vollzieht sich das Ende ganz still. Wenn kein Mensch da ist, der sich interessiert, wenn einer also allein gewesen ist, dann geht das Letzte sehr schnell. Wenn beides zusammenkommt, Armut und Alleinsein, dann ist eine Beerdigung so still und schnell wie eine Aufräumarbeit im Garten.
Eine Angestellte vom Friedhof kniet sich vor ein quadratisches Erdloch im Rasen, setzt die Aschenkapsel hinein, steht wieder auf und verbeugt sich. Der Mann vom Bestattungsinstitut macht ein Foto mit einer Pocketkamera, zum Beweis für die Rechtmäßigkeit des Vorgangs, falls sich doch irgendwann Angehörige melden. Die Friedhofsangestellte hat schon die Schubkarre hinter der Hecke vorgeholt und schaufelt das bisschen Erde darüber, das es braucht, um einen schmalen Blechbehälter mit Asche im Boden verschwinden zu lassen. Sie legt ein Rasenstück auf die Stelle, die damit versiegelt ist und kaum unterscheidbar vom Rest, stellt sich wieder aufrecht hin. Vögel zwitschern in den nebligen Morgen, die Luft ist frisch, kalt und leer, das ist alles.
Fünf Minuten dauert so ein letzter Akt an einem Menschen, allenfalls sechs. Es gibt keinen Namen, kein Kreuz oder Schild auf dem Fleck, kein Zeichen, dass die alte Petra R. jetzt hier liegt. Ihr Ende wird vom Sozialamt bezahlt, das billigste, was es gibt in dieser Kategorie: 221 Euro für die anonyme Bestattung auf der Urnengemeinschaftsanlage Friedhof Biesdorf. So heißt das Rasenstück am östlichen Stadtrand, wo die alte Frau R. nun begraben ist.
Die Angestellte vom Friedhof weiß nichts über die gestorbene Petra R. Kein Alter, keine Umstände, keine Todesursache. Sie sagt: „Man muss die Achtung vor einem Menschen bewahren.“ Sie ist eine resolute Frau mit Kurzhaarfrisur, eine Dienstleisterin, die es gut meint. Jeden Tag hantiert sie mit dem Tod, 600 Beerdigungen sind hier im Jahr. Man denkt, die Routine sei ihr bestimmt näher als das Gefühl. Aber die Frage hängt ihr trotzdem im Kopf: Warum keiner kommt? Die nächste Sozialbestattung wird in einer Woche sein, ebenfalls ohne Angehörige.
Na klar, sagt die Friedhofsangestellte, gibt’s auch die anderen. Wenn einer im Fußballverein gewesen ist oder bei der Feuerwehr, dann kommen Trauergäste hunderte an der Zahl. Sie legen Kränze hin, halten Reden, spielen Marianne Rosenberg vom Band. Schon früher haben sich die reichen Bauern auf dem Biesdorfer Friedhof begraben lassen, hinter Säulen und schwarzem Marmor. Günter Mittag, Mitglied des Politbüros des ZK der SED, hat hier auch einen Grabstein. Es ist ein schöner Ort, an dem die Bäume hoch gewachsen sind und blaue Blumen blühen. Die tote Frau R. dürfte sich nicht beklagen, dass sie hier liegt. Der Mann, der sie hierher gebracht hat, ist 49 Jahre alt, trägt einen schwarzen Anzug und heißt Horst Höft. Er hat viele Fälle wie Petra R. Weil er die Zulassung besitzt zum Sozialbestatter. Höft wird von der Polizei zur Leiche gerufen oder vom Sozialamt. Mit 520 Euro springt die Behörde ein, wenn sonst keiner die Beerdigung zahlt. Höft holt dafür den toten Körper mit dem Leichenwagen ab, erledigt die Formalitäten, sucht nach Verwandten, kümmert sich um die Einäscherung beim Krematorium, lässt seine Tochter im Blumenladen ein bescheidenes Rosengesteck arrangieren, zieht sich den schwarzen Anzug an, fährt die Urne in einem schwarzen Smart zum Friedhof, macht Fotos mit der Pocketkamera, schreibt die Rechnung. Das ist der Ablauf, der Ordnung schafft mit dem Tod.
Sein Bestattungsunternehmen hat fünf Filialen in den östlichen Randgebieten der Stadt. Von Sozialbestattungen allein kann Höft nicht leben, sie machen nur sechs Prozent seiner Aufträge aus, „ein Zuschussgeschäft“, sagt er. „Aber irgendwie muss ja jeder unter die Erde.“
Höft ist ein Mann, dem dieser Beruf nahe geht; der noch weint, wenn er Kinder beerdigen muss; der wochenends zum Angeln fährt, damit er nicht durchdreht wegen all dem Jammer vom Tag; der seinen Angestellten rät, den Toten nicht zu lange in die Augen zu sehen, weil er weiß, dass man die Gesichter sonst nie wieder loswird; der das Ganze würdevoll über die Bühne bringen will. „Ich bürge persönlich mit meiner Leistung“, sagt er. Man kann ihn Tag und Nacht anrufen.
Rund 33.350 Menschen werden jedes Jahr in Berlin bestattet. Das Statistische Landesamt führt keine Zahlen darüber, wie viele Bestattungen davon das Sozialamt bezahlt, die Behörde weiß nur, dass im Jahr 2000 in Berlin 12.473 Menschen anonym beerdigt worden sind. Und weil in Berlin viel Elend angeschwemmt wird, gibt es besonders viele Bestattungsfirmen mit Sozialbestattungszulassung hier. Auch die Showstars der Branche wie der Marktführer Ahorn-Grieneisen, diejenigen, die viel Wind machen um das Trauern mit Kinoreklame, Plakaten an Bauzäunen und teuren Werbeaktionen, auch sie führen Sozialbestattungen durch. Obwohl sich das nicht rechnet. „Man hofft, dass dadurch später was abfällt. Man muss einfach am Ball bleiben“, erklärt Horst Höft das Kalkül.
Es ist ein nebliger Vormittag am Stadtrand, der Morgen, an dem die alte Petra R. ihre letzte Ruhe in Biesdorf gefunden hat und an dem zum Beweis gerade mal ein Foto in den Unterlagen des Bestattungsinstitus bleibt. Horst Höft schüttelt die Hand, er muss gleich weiter. Ein Prominenter wird heute noch beigesetzt. Der Leibwächter von Bundeskanzler Gerhard Schröder.
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