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Das Sterben der Mailboxen

Das letzte Netzwerk der Friedensaktivisten im ehemaligen Jugoslawien steht vor dem finanziellen Ende: Die EU und die internationalen Hilfsorganisationen wollen nicht mehr dafür bezahlen

von ROLAND HOFWILER

Was waren das für Zeiten! Der Krieg um das ehemalige Jugoslawien tobte auch im Internet. Hacker und Politiker führten im Netz eine Propagandaschlacht nach der anderen. Und manch dubiose Gruppe brachte sich in die Schlagzeilen, wie etwa die „Schwarze Hand“. 1914 ging auf das Konto dieses serbischen Geheimbundes die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand, 1998 gaben sich Computer-Hacker diesen Namen, die mit unsichtbarer Hand in die Nato-Werbeabteilung eindrangen, in eine US-Regierungsseite und ein Forschungsprojekt der amerikanischen Marine. Andere Hacker knüpften sich danach die Serben vor, andere wiederum die Albaner.

Das ist lange her. Es herrscht Frieden auf dem Balkan, und auf den Webseiten der Kommerz. Alles was einst politisch war, ist nahezu verschwunden. Die legendären Internet-Zirkel wie „Za-Mir“ (www.peacenet.org/balkans) oder die der niederländischen Experimentiergruppe „xs4all“, die ungezählten kleinen Friedensgrüppchen aus Serbien, Bosnien, Kroatien und Albanien die Webseiten aufbereiteten (http://domovina.xs4all.nl/bcs/), haben sich aus den großen Datenbahnen des Internets verabschiedet. Die albanischen Sammelhomepages (www.albanian.com und www. kosovapress.com) und das serbische Multimediaprojekt B-92 (www.b92.net) sind längst ohne Biss. Und das letzte noch intakte Netzwerk, die Alternativna Informativna Mreza, kurz AIM, (www.aimpress.org) steht nun vor dem Aus. Die Europäische Union und internationale Hilfsorganisationen wollen kein Geld mehr in das Projekt stecken, das 1992 vom Europäischen Bürgerforum, einem Ableger der in den 70er-Jahren in Südfrankreich gegründeten Landkommune Longo Mai, ins Leben gerufen wurde. Zum Jahresende soll das in seiner Art einzigartige Balkan-Netzwerk abgedreht werden.

Letztes Netzwerk

Im Unterschied zu anderen Hilfsorganisationen im Medienbereich begnügt sich AIM mit einem Minimum an Verwaltungsaufwand. Es existiert nicht einmal eine flache Hierarchie, sondern gar keine. Sowohl die in Paris ansässige Koordinatorin wie auch der Generalsekretär beschränken sich auf administrative Aufgaben.

Stand während des blutigen Krieges der Kampf gegen nationalistische Hetze und Fanatismus im Vordergrund, ist es heute die mediale Verständigung über die neu gezogenen Grenzen auf dem Balkan hinweg. Da sich die meisten der unabhängigen Medien in den Nachfolgestaaten des untergegangenen Jugoslawien kein eigenes Korrespondentennetz leisten können, brauchen sie ein gemeinsames Informationsnetzwerk. Diese Aufgabe übernimmt AIM, das unentgeltlich Berichte und Analysen an eine Vielzahl von Zeitungen auf dem ganzen Balkan weiterleitet, aber auch gleichzeitig alles für jedermann im Internet frei zugänglich hält. Zum Erstaunen der AIM-Betreiber übernimmt selbst manch Regierungsblatt und manch nationalistische Postille mehrmals wöchentlich Artikel aus dem reichhaltigen Angebot der ehemaligen Aktivisten der Antikriegsbewegung.

Tag für Tag produzieren die Redaktionsstuben in Banja Luka, Belgrad, Ljubljana, Podgorica, Prishtina, Sarajevo, Skopje, Sofia, Tirana und Zagreb Texte, die sich sehen lassen können, aber auch ihren Preis kosten: Das Konzept verschlingt an die 800.000 Euro im Jahr, eben zu viel Geld aus Sicht der Brüsseler Bürokraten. Sieben Jahre nach Ende des Bosnienkrieges und drei Jahre nach Befriedung des Kosovo ist ein massiver Rückgang internationaler Hilfsgelder für alle gesellschaftlichen Bereiche zu beobachten. Von Suppenküchen für Arme über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Jugendliche und schulischen Projekten bis hin zu Internetcafés: einer Initiative nach der anderen wird der Geldhahn zugedreht.

Veteranentreffen

Die politische Funktion des Internets für die Balkanregion gehört so der Vergangenheit an. Nur noch auf inaktuellen Websites kann der Interessierte nachlesen, wie es einst zur Gegenöffentlichkeit kam, aktuelle Diskussionen fehlen: Mit Ausbruch der ersten nationalistischen Provokationen bildeten sich überall im Vielvölkerstaat kleine „Für-Frieden“-Kreise (auf südslawisch „za mir“), die über E-Mail und Newsgroups eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen suchten. Telefone und Faxverbindungen waren im Laufe von Kampfhandlungen vielerorts zusammengebrochen. Mit teilweise schwachen Rechnern und einfachen Mailprogrammen wurde das Netzwerk der Mailboxen aufgebaut, manchmal nur mit minutenlangen Logins ausgerüstet, in Extremfällen lief der Datenaustausch gar nur über Funkamateurfrequenzen unter 300 Bit-Raten pro Sekunde. Alles bewegte sich abseits des World Wide Web, ohne FTP-Protokoll oder IRC-Chat. Zamir galt als Alternative zum Hass der Radio- und Fernsehstationen, als Vermittler von Augenzeugenberichten anstelle von Propagandatexten in den Printmedien.

Die Akteure von einst haben sich längst zurückgezogen oder gingen in die westliche Immigration. Vor Ort gibt es so gut wie keine Möglichkeit, im Computerbereich Arbeit zu finden. Von einst 5.000 Mailbox-Standorten, über die bis zu 2.000 Gruppen und Einzelpersonen miteinander verbunden waren, existieren heute nur noch private Maillisten, über die sich die Veteranen über die alten Zeiten unterhalten. Die Aktivisten der legendären Bionic-Mailbox in Bielefeld haben sich längst neuen Projekten verschrieben, im Glauben, die Balkanesen würden ihre gewonnene Medienfreiheit selbst zu verteidigen wissen.

hofwiler@taz.de

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