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Ein Kreuzweg der MetaphernEine Box mit Deckel drauf

Eine Ausstellung im Museum Kreuzberg präsentiert die Lebenswelten in Oranien- und Boxhagener Straße. In der einen ist ein Laisser-faire zu Hause, das Geschichte hat. Die andere ist noch im Werden, im Stadium der Verpuppung. Eine Ortsbesichtigung von WALTRAUD SCHWAB

Die Avantgarde hatte keine Zeit, sich einzurichten

Birtanem“ – meine Einzige – wurde mit weißer Farbe auf das Trottoir in der Oranienstraße in Kreuzberg geschrieben. Bir – das heißt eins, tane – heißt Teil, -em – bezieht sich aufs Ich. Anders als im Deutschen ist das Geschlecht im Türkischen jedoch nicht festgelegt. „Birtanem“ kann auch „mein Einziger“ sein.

Ein Glück, dass die Oranienstraße keine Autobahn geworden ist. Der Plan aus den Sechzigern wollte es so. Kahlschlagsanierung, Hochhäuser und Highways. Nur wer bleiben musste, blieb. Nur wer kein Geld hatte, zog her: Studenten, türkische Familien, Proletarier, Traumtänzer, Lebenskünstler. Nebeneinander richteten sie sich ein in der heruntergekommenen Tristesse. Döner-Imbiss neben Punkschuppen neben Kaschemme neben Homo-Bar. Das Leben wurde auf die Straße getragen. Und um den Bäcker nach Brot zu fragen, wurde Türkisch gelernt. Zum Abschied: „Allahaismarladik“ und „güle-güle“, lächle-lächle.

Später wurde der Bauplan geändert. Die Schneise, die Hochhäuser, die Highways waren vom Tisch. Nicht so die Menschen. Hausbesetzungen und Straßenschlachten folgten. Nirgendwo gingen so viele Fensterscheiben zu Bruch wie in der Oranienstraße. Randale endete meist hier. Irgendetwas zog dahin. Zieht noch immer, selbst jetzt, wo der Abgesang auf Kreuzbergs Armut mit nichts Legendärem mehr aufwarten kann. Nach Lourdes fahren Pilger, weil eine Jungfrau Marienerscheinungen hatte. Aber was zieht nach Kreuzberg? Der Kreuzberger Kreuzweg führt entlang der Zeichen einer metaphernreichen Kultur: Inschriften, Schreine und Altäre einer widerspenstigen Moderne verdichten sich. Kitsch wird zu Kult und Kult wird zu Alltag.

Alles Kleine wird zelebriert: Im Schaufenster von „Farben Kacza“ steht der goldene Hologrammglitter als profanes Tabernakel im Zentrum des Farbarrangements. Bei „Export-Import“ werden „Polentaschen“ mit darauf ausgebreiteten Gebetsteppichen zu Opferstätten. Und wenn Jahreszeit und kreative Laune es zulassen, baut Herr Aksünger vor seinem Lebensmittelmarkt „Gida Pazari“ einen Gemüsealtar aus Tomaten. Knallrote, große, kleine, fleischige, schlanke, feste, weiche Tomaten. Die ausgefallensten mittendrin: orangefarbene. Als wären sie angemalt. Fast unecht. Wie eine vergehende, aber falsche Fronleichnamsdekoration, die niemand als solche erkennt. Unerwarteter Übermut. Davon aber lebt die Straße.

Wo andernorts Girlanden und mit Blumen verzierte Madonnen die Dörfer schmücken, gibt es hier Plakat-Ikonen, Pamphlet-Anbetungen und kleine gläserne Schreine, in denen die Andenken einer nicht mehr ganz intakten Ichwerdung liegen. Vor allem in Kneipen, die sich der vierten Dimension nicht verschließen wie „Jenseits“ oder „Bierhimmel“, aber auch im „Roses“ wird jede Vitrine zum Schrein. Das Glas trennt zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Begehren und Verneinung. Im „Jenseits“ sitzt Lenin als Buddha im Aquarium. Darüber ein Marxzitat: „Wo der Glaube an das Diesseits zerfällt, hat das Jenseits Konjunktur.“

Der Schrein im „Bierhimmel“ wird von den Gästen dekoriert. Derzeit liegen darin Souvenirs der verlorenen Liebe: Blumen, die in einer mit einem Messingdrahtknäuel gefüllten Vase vertrocknen. Dazu Scherenschnitte nackter Körper und Schlagersehnsucht: „Irgendwie fängt irgendwann irgendwo die Zukunft an“. Der Schrein in der Außenwand des „Roses“ dagegen wird zur dreidimensionalen Illusion, in der Delfine und Meeresschildkröten sich in ihrer blauen Gegenwelt tummeln.

Kaum eine Fassade in der Straße, die nicht schwarzes Brett ist. An der Brandmauer in der Nähe des Görlitzer Bahnhofes informiert der nicht mehr so sichtbare „schwarze Block“ über „linke Strukturen“ und braunes Denken. In Momenten großer Leidenschaft werden Transparente über die Straße gespannt. Alles bleibt und hält doch nicht lange, wie die übereinander geklebten Plakate: Gestern noch „Clean Living“, heute schon „Spiderman“.

Lifestyle und Hype werden noch immer in Prenzlauer Berg gesucht, daran jedoch glaubt niemand hier. Zu aufgesetzt. Zu gewollt. Zwischen Oranien- und Heinrichplatz aber verdichtet sich ein Laissez-faire, das eine Geschichte hat und untrennbar mit den hier lebenden Menschen verbunden ist. Das ist echt, wenngleich vielfarbig, unordentlich und durchaus verstaubt. Vielleicht sind so auch die türkischen Verb-Endungen zu lesen, die statt Stuck das Eckhaus am Heinrichplatz zieren: „-müșmüșsünüz, -mișmișsin, -müștük, -müșlerdi.“ Unübersetzbar das Lebensgefühl, von dem sie sprechen: „Sie hätten das oder jenes gemacht; du hast das angeblich getan; das hatten wir ja schon ...“ - Und „Birtanem“, meine Einzige? Längst übermalt. Es war nur eine kurze Liebe.

In der Boxhagener Straße in Friedrichshain findet Kommunikation großzügig statt. Vermischt werden Vorlieben, Ideen und Alltag. „I live in the Boxi“, sagt ein Fan dieses Fleckens Berlin, dem der Ortsunkundige seinen Charme nicht auf den ersten Blick ansieht. Der Begeisterte aber streckt seinen Arm aus und zeigt 180 Grad weit um sich. Sein Gegenüber folgt der Bewegung und blickt am Ende auf die leere Hand. „Box – closet“, sagt der Fremde irritiert. Eine Schachtel, mit einem Deckel darauf. Ungeoutet.

Die Liebeserklärung gilt einer Straße, die in der Verpuppung steckt. Dort ein Haus, um das ein Gerüst mit grünem Netz gespannt ist, eine Straßenecke weiter dasselbe, nur diesmal in Blau. Unweit davon liegt ein umgefallener Bauzaun, auf der anderen Seite rattert eine Betonmischmaschine, gegenüber ist eine Fassade, in der die Rolläden schräg über den Schaufenstern hängen. Schon eine ganze Weile. Über allem Unfertigen klebt als Brandzeichen das Filmplakat „Berlin is in Germany“. Selbstvergewisserung, der der Zufall zu Hilfe kam, denn der Filmvertrieb sitzt in der Straße.

„Hier ist alles ungerichtet“, sagt Edwina M., eine Bewohnerin, die, wie sie sagt, schon zu Mauerzeiten im Kiez gelebt hat. Wie sie das meine? „Schauen Sie doch da drüben, der Friseurladen versucht sich in teuer, während hier im Sozialladen das Brot für die Bedürftigen nur deshalb billiger ist, weil die Verkäuferin ehrenamtlich arbeitet.“ Auch sie zieht mit ihrem Arm einen Halbkreis, als wolle sie etwas zusammenhalten, was auseinander driftet. Dabei liegt die Spannung im Unentschiedenen.

Von allem ist etwas in der Straße: Tante Emma neben Record-Label, Rotlicht gegenüber Mega Grill, Lagerfeuer hinter Asialand, „Hass macht klein“ neben „JaCk WeaD GRace SPiN“, eine Spaziergängerin mit Frettchen unweit eines Ledertypen mit eifersüchtiger Dogge, Video Rent Club abseits des Buchladens, Lindenblütenduft über Hundekot, Friedhof Tür an Tür mit Theater. Was sich hinter jeder Fassade jedoch wirklich verbirgt, bleibt ein Geheimnis.

Im Hof der alten Remise bei „Katanga“ wachen buddhistische Tempelgeister zum Sound von „Spirit Zone 4“. Wie sie dahin gekommen sind, wird nicht verraten. Hinter dem Tor der leer stehenden Fabrik unweit des Wismarplatzes aber wächst Unkraut. Im Keramikladen nahe der S-Bahn verlässt ein Besucher, der die gelungene Formgebung der Schalen bewundert, fluchtartig den Laden, als der Besitzer abgelenkt ist. Wahrscheinlich hat er was mitgenommen, warum sonst die Eile?

Im türkischen Imbiss – eigentlich alkoholfreie Zone – stapeln sich die Schnapsflaschen auf den Spielautomaten, und das Antiquariat der Obdachlosen entwickelt sich zum intellektuellen Geheimtipp. Als Ganzes disparat, dicht aber an jedem einzelnen Ort. Dazwischen fährt die Straßenbahn.

Kitsch wird zu Kult und Kult wird zu Alltag DIE BOXHAGENER STRASSE:

„Monokulturell ist es in Friedrichshain. Deshalb sind die Leute hergezogen“, kritisiert eine überzeugte Westberlinerin. „Kaum nichtdeutsches Flair, das seine Markierungen setzt“, sagt sie. Das stelle weniger Ansprüche, das mache weniger Angst. „Wer lässt sich schon gern auf das Fremde ein, wenn es anders als als Falafel und Sushi daherkommt?“

Solange die Boxi sich noch hinter dem Deckel ihrer Schachtel versteckt, mag es stimmen. Dass die asiatisch aussehende Frau aber am gut sortierten Kiosk im Morgenmantel ihr Baguette kauft, spricht eine andere Sprache.

Nachdem Prenzlauer Berg seine Unschuld verloren hatte, zog es Studenten, Punks und Künstlerinnen in die heruntergekommenen Mietshäuser in Friedrichshain. Dort waren Ostflair und Wohnraum noch preiswert zu haben. Für kurze Zeit blühten die großen Ideen von Gegenkultur und Selbstverwirklichung mit „Bezahlt wird nicht“, schwarzer Fahne und „Jedem seine Anarchie“.

Anders als in der Oranienstraße aber hatte die kleine Avantgarde keine Zeit, sich einzurichten. Schnell lungerten in ihrem Windschatten die Trendscouts und Investoren. Weil sie am längeren Hebel sitzen, wird aus dem Underground ein Tattoo-Studio, aus der Ingroup die Peergroup, der Szeneclub zur Gourmetkneipe, das Ostige zum Kostigen. Die hier abgehende Simon-Dach-Straße ist mit all ihren Kneipen der Friedrichshainer Kollwitzplatz. In der Boxhagener aber hängt das Remis zwischen Kiez und Kommerz noch über den Dächern.

„Don’t forget to come!“, ruft der Boxi-Fan dem Ortsunkundigen nach, nachdem er ihm einen Zettel für ein „Anti-WM-Endspiel-Event“ im dritten Hinterzimmer eines zweiten Hinterhofs in die Hand gedrückt hat. „It is easy to find – leicht zu finden“, ermuntert er. „Just listen to the sound of ‚Buhh-buhhh‘.“

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