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„Das sind genauso arme Schweine“

Vor dem WM-Halbfinale Türkei gegen Brasilien: Warum die türkischen Zuschauer Mitleid mit den Senegalesen haben, auch türkische Frauen Fußball schauen, und warum türkische Fans die Deutschen ärgern möchten. Ein Essay aus Kreuzberg

„Es wäre besser gewesen, der Senegal hätte gewonnen. Dieses Gehupe geht mir auf die Nerven.“

von ESMAHAN AYKOL

Die Männer, mit denen ich mir im Café Orya in der Oranienstraße die Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft anschaue, haben sich mit meiner Anwesenheit inzwischen abgefunden. Auch die dummen Bemerkungen meiner Bekannten sind seltener geworden. Eine Zeit lang hatten sie gefragt: „Schaust du dir die Spiele an, weil dir die Fußballer gefallen?“ Die sahen in mir eine leicht perverse junge Frau, die stundenlang im Café auf einem harten Stuhl hockt und Fußball schaut, nur um stahlharte, muskulöse Beine und Hintern zu sehen, und die gespannt darauf wartet, dass einer sein Trikot auszieht und darunter eine behaarte oder unbehaarte Brust zum Vorschein kommt.

Ich will nicht behaupten, es gebe keine Frauen, die aus diesem Grund Fußball schauen. Aber da ich „klischeegeschädigt“ bin, rege ich mich über diese Art Bemerkungen maßlos auf – genauso, wie ich mich über die Deutschen ärgere, die fragen: „Ach, trinken Sie etwa Wein? Essen Sie womöglich auch Schweinefleisch?“

Meine Freundinnen in Istanbul. Nein, anders: Meine Freundinnen, die mich schon ein halbes Leben lang kennen, wundern sich, wenn sie hören, dass ich Fußball schaue. Und wenn ich ihnen erst erzähle, dass ich nach dem Spiel mit einer Fahne in der Hand durch die Gegend renne, verschlucken sie sich fast vor Erstaunen. Arzu meinte sogar: „Wenn du hier wärst, würdest du vielleicht auch Fußball schauen, aber nach dem Spiel würdest du sofort nach Hause fliehen.“

Arzu kennt mich seit vielen Jahren, und sie beobachtet sehr genau, wie ich mich verändere, seit ich nach Deutschland emigriert bin.

Und genau genommen ist dies das eigentliche Thema dieses Artikels, auch wenn ich es ein wenig spät einführe: „Die Senegalesen sind gute Menschen.“

Der schönste Moment nach dem Spiel Japan-Türkei war für mich, als in der U-Bahn-Linie 1 ein etwa 15-jähriger Junge in einem roten T-Shirt mit aufgenähter türkischer Fahne brüllte: „Suzuki, Kawasaki, Honda, Yamaha sind alle kaputt. Gewinner ist das türkische Fahrrad.“ Es war friedlich geblieben.

Als ich am vergangenen Sonnabend zum Café Orya ging, um mir dort das Viertelfinale Senegal-Türkei anzusehen, machte ich mir hingegen Sorgen. Ich muss zugeben, dass ich etwas gereizt war, als ich die Schwarzen sah, die in Kreuzberg herumliefen: Fehlte nur noch, dass es nach dem Spiel zu Auseinandersetzungen kam.

Um Fußball zu schauen, waren Schwarze ausgerechnet in das Türkenviertel Kreuzberg gekommen, und im Café Orya saßen außerdem natürlich Türken sowie Araber und einige Deutsche, von denen man nicht wusste, welche Mannschaft sie unterstützten. Der Deutsche, der neben mir saß, erklärte nach der ersten Spielhälfte, er habe sich für die Türken entschieden, denn „die Türken haben den Sieg verdient“. Und ich? Ich wollte gewinnen, ob wir es verdient hatten oder nicht. Ich werde bestimmt nie zu einem Gerechtigkeitsfanatiker wie die Deutschen. Von Natur aus kann ich das nicht. Wahrscheinlich eine genetische Veranlagung.

Der Türke, der in der Reihe vor mir saß und während des gesamten Spiels Sonnenblumenkerne knabberte (wobei er sich gelegentlich umdrehte und auch mir davon anbot), erklärte hingegen, nachdem Hakan Sükür diese wunderbare Torchance verspielt hatte: „Es ist nicht so schlimm, wenn wir verlieren, Schwester. Schließlich ist es der Senegal, der gewinnt.“ – „Meinst du? Wieso?“, fragte ich erstaunt. „Das sind genauso arme Schweine wie wir.“

Während die meisten Zuschauer nach dem Golden Goal von Ilhan Mansiz aufgekratzt aus dem Café und zu ihren Autos stürzten, gab es auch ein paar Türken, die die Afrikaner trösteten, die mit ihnen zusammen das Spiel angesehen hatten. „Tut uns Leid“, sagte einer zu einem Schwarzen und versetzte ihm einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. Auch der Mann daneben schloss sich an: „Ja, tut uns Leid.“ Danach drehte er sich zu seinem Freund um und sagte: „Das sind sehr nette Menschen.“

Seit dem vergangenen Samstag erklären die türkischen Medien ununterbrochen, der Erfolg der Nationalmannschaft sei Balsam für die Seele der türkischen Bevölkerung, die unter der Wirtschaftskrise ächzt. Die Menschen in der Türkei bekämen durch den Fußball das Gefühl, erfolgreich zu sein. Und wenn man den Kommentaren der türkischen Medien glaubt, bringt der Fußball uns einander näher. „Nach dem Sieg der Nationalmannschaft umarmen sich Türken, Kurden, Tscherkessen, Islamisten und Linke unter unserer Fahne, und auch unsere Landsleute im Ausland freuen sich über den Sieg.“

„Suzuki, Kawasaki, Honda, Yamaha sind alle kaputt. Gewinner ist das türkische Fahrrad.“

Als ein Exemplar der Landsleute im Ausland freue auch ich mich über den Sieg, und nach dem Spiel quetsche ich mich mit meinen Freundinnen sofort in ein Auto und fahre von der Oranienstraße zum Ku’damm. Die Freundinnen haben zwar das Spiel nicht gesehen, aber die Gelegenheit, in der Gegend herumzufahren und andauernd zu hupen, wollen sie sich nicht entgehen lassen.

In einem Wagen des Konvois stecken zwei Männer die Köpfe aus dem Schiebedach. Einer ist Türke und schwenkt eine senegalesische Fahne, der andere ist ein Schwarzer, er schwenkt eine türkische Fahne. Wir sehen junge Männer in rotem T-Shirt und weißen Hosen und Mädchen mit rotem Kopftuch und weißen Kleidern, manche Jugendliche haben sich die Fahne um den Kopf geschlungen. Alle hupen ununterbrochen, der Krach macht einen verrückt.

Meine Freundin Seval, die den Arm aus dem Fenster halten und die Fahne schwenken muss, sagt nach ein paar Stunden kleinlaut: „Eigentlich wäre es besser gewesen, wenn der Senegal gewonnen hätte. Die hätten getrommelt und getanzt, und wir hätten mitgemacht. Dieses Gehupe geht mir auf die Nerven.“

Unsere Fahrerin Nuray, eine geborene Berlinerin, der das Hupen anvertraut wurde, widerspricht ihr. „Du bist neu hier, das verstehst du nicht. Wenn wir hupen und Krach machen, ärgern sich die Deutschen noch mehr. Sei froh, dass wir gewonnen haben.“ Wir sind beileibe nicht die Einzigen, die auf der Straße herumfahren, um andere zu ärgern. Ein zehnjähriger Junge auf einem Fahrrad, der sich durch unsere Anwesenheit offenbar ermutigt fühlt, schreit genau in diesem Moment in Richtung der Polizisten: „Türkiye!!! Türkiye!!!“

DEUTSCH VON ANTJE BAUER

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