: Seltenes Pech für das Paradies
aus Goniadz BERNHARD PÖTTER
Das Wolfsrudel von Gzedy hat Glück gehabt. Die Elchkuh ist gestorben, ohne dass die Angreifer einen Kampf riskieren mussten. Abgeknickte Erlenschößlinge zeigen, dass das massige Tier vor kurzem hier noch gefressen hatte. Nun haben die Wölfe den Kadaver zerfetzt. Bleich leuchten die Rippenknochen aus der Wiese, aus dem Gebüsch nebenan ragen die abgetrennten Läufe, das Fell ist am Boden verteilt. Auf dem sandigen Boden der Düne zeigen frische Pfotenspuren: Die Räuber sind noch in der Nähe. Irgendwo im Kiefernwald oder dem Sumpf, in dem die Bäume dicht an dicht mit den Wurzeln im Wasser stehen, warten sie auf das nächste Jagdglück.
Alltag in Polens Amazonien. Im Biebrza-Nationalpark in der nordöstlichen Ecke des Landes leben seltene Pflanzen und Tiere wie die Doppelschnepfe. Das Paradies hat Glück gehabt. Denn die Sümpfe waren schon immer schwer zugänglich; sie bildeten die Grenze zwischen Russland und Preußen und lagen Jahrhunderte weitab vom Schuss. Die Festung Osowiecz am Ufer der Biebrza war im Ersten und Zweiten Weltkrieg hart umkämpft, in die Sümpfe zogen sich polnische Partisanen im Widerstand gegen die deutsche Besatzung zurück – aber wirklich eingenommen wurde das Gebiet weder von Soldaten noch von Bauern. Zufällig entdeckte in den 50er-Jahren ein junger Warschauer Biologe die Vielfalt von Vogelarten im Gebiet der Biebrza. Als den Sümpfen in den 70er-Jahren ein Schicksal als Staatsfarm drohte, wurde stattdessen der Nachbarfluss Narev kanalisiert und zerstört. Nach der politischen Wende 1989 wurde das Gebiet zum Nationalpark. Als Konflikte zwischen Bauern und Parkverwaltung das Projekt gefährdeten, lief es wieder gut: Die Umweltschutzorganisation World Wide Fund for Nature (WWF) machte die Biebrza zu einem Vorzeigeprojekt.
Direkt an der Grenze des Parks liegt das Dorf Trzcianne. Schiefe Holzhäuser ducken sich in die Kornfelder, am Waldrand beginnt die Schutzzone. Für die Bauern war der Park eine Bedrohung. Sie hatten Angst vor Verboten beim Holzeinschlag, beim Fischen, beim Ackern auf den Feldern. Das änderte sich, als der 42-jährige Zdislaw Dabrowksi zum Bürgermeister gewählt wurde. Für ihn ist der Park eine Chance: Jetzt kommen Touristen, jetzt können die Landwirte damit werben, dass ihre Milch aus dem Nationalpark kommt, jetzt bekommt Tzcianne eine Kläranlage. „Das Wichtigste, was die Umweltschützer geschafft haben? Sie haben uns beigebracht, unsere Heimat wieder zu achten und zu lieben“, sagt Dabrowski. Stolz verweist er auf sein Holzhaus mit Reetdach und traditioneller Bauernstube mit gemauertem Herd. „Früher haben wir alte Häuser abgerissen, weil wir sie rückständig fanden. Und den Sumpf wollten wir entwässern, um Felder daraus zu machen, wie es der Staat plante. Unsere Väter haben gesagt, das geht nicht. Und sie haben Recht gehabt.“ – „Dieser Bürgermeister ist ein Riesenglück für den Park“, sagt Przemek Nawrocki vom polnischen WWF.
Und Glück hatten die Bauern auch mit dem neuen Chef des Nationalparks. Anders als sein Vorgänger führt Adam Sienko den Park nicht wie eine Kaserne, sondern beteiligt Bewohner und Umweltgruppen. Umwelt geschützt, Jobs geschaffen, die skeptische Bevölkerung begeistert. So funktioniert nachhaltige Entwicklung. Nur: Wie lange bleibt das noch so in Biebrza?
Berge von Fleisch, Kuchen und Gurken in allen Variationen liegen auf der Tafel von Jan und Elzbieta Nadolny in Sulin am Rande des Parks. Ihre Pension in dem Holzhaus am Rande des Parks bietet Vollpension für 20 Euro. Der Wirt hat Zeugnisse der Kriege gesammelt: ein verrostetes Bajonett, deutsche, polnische, russische Stahlhelme, ein Maschinengewehr. Die Nadolnys leben von englischen, deutschen, holländischen und neuerdings auch polnischen Touristen, die in die Sümpfe kommen und die sie herumführen.
Das ist gut für die Wirte, aber Pech für den Park. Jährlich 30.000 Touristen zahlen nicht nur Eintritt und Geld für ein Bett und eine Führung. Auch Öko-Touristen wollen möglichst nah an die seltenen Vögel heran, möglichst oft die scheuen Elche sehen und möglichst einmal einem Wolf begegnen. Je mehr Menschen die Natur suchen, desto weniger gibt es davon. Damit sein Erfolg dem Park nicht zum Verhängnis wird, legt die Parkverwaltung Rad- und Wanderwege an und versucht, die Touristen außerhalb der sensiblen Bereiche zu beschäftigen.
Zum Beispiel mit den Kühen von Brzostowo. 200 Kühe aus dem Dorf genießen ihre Freiheit: morgens waten oder schwimmen sie durch die etwa 30 Meter breite Biebrza und kehren abends von selbst nach Hause zurück. Sie fressen die Wiesen im Nationalpark ab. Der Park braucht die Kühe und die Bauern, damit die Wiesen für die Vögel kurz bleiben. Biebrza ist neben seinen wilden Ecken eine Kulturlandschaft. Sie kann nur erhalten bleiben, wenn die Bauern weiter dort arbeiten – nach den traditionellen Methoden, etwa das Gras mit der Hand zu mähen, um die Feuchtwiesen nicht mit dem Traktor zu zerstören.
Eine Idylle, verglichen mit angebundenen Turbokühen und Hightech-Bauern in Westeuropa. Trotzdem hat Bauer Witold Konopka Sorgen. „Ich habe Angst vor dem EU-Beitritt“, sagt der 60-Jährige mit den schwieligen Händen. Im Wettbewerb mit dem hoch subventionierten Getreide und Fleisch aus der EU hat er keine Chance, Dünger und Pestizide kann er sich nicht leisten. Könnte er für seine extensive Landwirtschaft nicht Geld aus den Öko- und Sozialbudgets der EU bekommen? „Ich weiß nichts darüber“, sagt Konopka. Und auch die Experten rätseln. Schließlich ist die Landwirtschaft mit ihrem Subventionssystem eines der größten Probleme beim EU-Beitritt Polens. Sterben die Bauern, stirbt auch der Park, fürchtet WWF-Mann Nawrocki.
Auch Adam Sienko runzelt die Stirn, wenn man ihn auf die Folgen des EU-Beitritts anspricht. Der Direktor des Nationalparks sitzt eingezwängt in seine grüne Försteruniform in seinem Hauptquartier in Goniadz am Rande des Parks. Er seufzt und klatscht mit dem Zeigestock auf die Karte seines Parks. „Genau hier in der Mitte soll die Autostraße durchführen, wenn es nach den bisherigen Planungen geht“, sagt Sienko. „Wölfe und Elche würden von ihren Rückzugsgebieten in Weißrussland abgeschnitten, die Vögel würden wahrscheinlich ihr Flug- und Brutverhalten ändern.“
Die Fernstraße ist Teil der „Via Baltica“, die von Warschau aus über die Provinzhauptstadt Bialystok die baltischen Staaten schneller an Mitteleuropa anbinden soll. Sie soll Handel, Geld und Arbeitsplätze bringen. Deshalb fördert die EU den Bau. Andererseits erwartet die Union, dass Polen bei einem Beitritt seine Naturschätze bewahrt. Das Land beherbergt so viele Arten an Pflanzen und Tieren wie kaum ein anderes in Europa. Der WWF kämpft nun um seinen Vorzeigepark: Eine Umweltverträglichkeitsprüfung werde Alternativen zur jetzigen Route aufzeigen müssen, hofft WWF-Mann Nawrocki. Aber ob die Planung an der Provinzhauptstadt Bialystok vorbeiführen kann?
Neue Straßen wären hier vielleicht gar nicht verkehrt. Auf den sandigen Nebenstraßen ziehen die Autos lange Staubfahnen hinter sich her, auf dem Kopfsteinpflaster der Landstraßen hopsen sie wie Gummibälle. Und die Fernstraße Bialystok–Warschau ist eine zweispurige Rennstrecke für schnaufende Lastwagen und keuchende Busse. Unfälle mit Toten und Verletzten sind an der Tagesordnung. Da liegt der Wunsch nach einer sicheren Straße nahe. Von dieser Sicherheit und diesem Fortschritt aber wird die Doppelschnepfe nichts haben. Will sie überleben, braucht sie wieder einmal Glück.
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