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Baumdenken und den Baum denken

Ein Sturm fegte tausende Berliner Bäume um und rückte die Einstämmer in den Mittelpunkt der Gespräche. Neben knatternden Motorsägen blühen nun Baumhass und -liebe. Eine Beobachtung zwischen Teutoburger Wald, Buchenwald und Waldtrauer

von HELMUT HÖGE

Seit dem verheerenden Sturm am 10. Juli, der allein in Berlin rund 4.000 Bäume umriss, wird viel über den Baum nachgedacht. Und mancher Landbesitzer ist nachgerade erschüttert, dass seine schöne Akazie am Haus oder sein alter Birnbaum im Vorgarten nun nicht mehr steht. Bei Carwitz sah ich das halbe Dorf zu einer solitären Eiche am Feldrand pilgern, wo man traurig um den völlig zerfledderten Riesen herum Aufstellung nahm. In Vorpommern waren noch Tage danach ganze Straßen gesperrt, weil die vielen umgestürzten Bäume und abgerissenen Äste nicht so schnell beseitigt werden konnten. Überall knatterten Motorsägen. Auch dies Geräusch quälte die Baumfreunde landauf, landab. Überall standen deswegen die Bäume im Mittelpunkt ihrer Gespräche.

Ein Berliner Dokumentarfilmer wollte bemerkt haben, dass die Wurzelballen der umstürzenden Bäume immer kleiner werden. So als ob sie sich – wie die Menschen drum herum – selbst zu dem immer öfter notwendig werdenden Standortwechsel befähigen wollten. Die Bäume sind den Menschen inzwischen auf Gedeih oder Verderb ausgeliefert. Ein englischer Botaniker meinte, dass sie auch oberirdisch immer kleiner und dünner würden. Das gelte insbesondere für die Eichen, die man vornehmlich für den Schiffsbau benutzte und die somit Englands Seemacht mitbegründeten, weswegen dort schon vor Jahrhunderten über jeden Eichbaum Buch geführt wurde. Die Bäume sterben aus, behauptete der Botaniker, „so wie die Dinosaurier einst!“.

In Berlin sind gerade die Kastanien besonders bedroht – von einer mazedonischen Motte. Und in Kalifornien die letzten Mammutbäume – von einem Waldbrand, den man an ihrem Standort nicht löschen will.

Ein aufs Land gezogener Genetiker aus Gießen sah das Übel im Baumdenken an sich begründet: das heißt, darin, dass man den Baum isoliert denkt und pflanzt. Denn eigentlich handele es sich dabei nur um ein herausragendes Teil eines komplexen Ökosystems, das aus Gräsern, Pilzen, Sträuchern, niedrigen und hohen Bäumen sowie einer vielfältigen Fauna – bis hin zu Insekten, Würmern und Bakterien – bestehe. Indem wir jedoch den Baum theoretisch wie praktisch isolieren, weihen wir ihn dem Untergang. So wie es der Mönch Bonifatius einst mit der riesigen Donareiche bei Fulda tat.

Im vorpommerschen Feldberg gibt es noch heute einen „Heiligen Hain“ aus uralten Buchen; ähnliche Baum-Pilgerstätten sind über ganz Deutschland verstreut – und die Menschen unternehmen Gruppenreisen dorthin. Mein Freund, der Baum! Das Zentralorgan der deutschen Baumdenker, die FAZ, listete unlängst sogar die „100 schönsten und größten“ solitären Bäume Deutschlands auf. Anti-AKW-Aktivisten ketten sich in Gorleben regelmäßig an Fichten, um sie vor dem Fällen zu schützen. Die kalifornische Ökoaktivistin Julia Butterfly-Hill lebte aus demselben Grund sogar zwei Jahre auf einem Redwood Tree.

Die dergestalt individualisierten Bäume, aber auch all die individuell gepflanzten und umhegten in unseren Gärten, Straßen und Parkanlagen können inzwischen auf unser Mitgefühl rechnen. Nicht jedoch die quasi industriell angebauten und hochmaschinell bewirtschafteten Nutzwälder, deren Bäume zerschreddert nach wie vor den Grundstoff für unsere Ikea-Möbel, Spanplatten, Zeitungen und Bücher abgeben. Diese wie überdüngte Spargelfelder aussehenden Forste rücken ebenfalls den letzten noch einigermaßen organisch gewachsenen, „gesunden“ (Misch-)Wäldern zuleibe, die zudem von oben – durch Luftverschmutzung – und von unten – durch Grundwasserbelastungen – angegriffen werden.

Bereits 1984 seufzte der erste Ökoredakteur der taz, Manfred Kriener, in seinem gleichnamigen Buch: „Er war einmal“ – und sprach von einem „deutschen Abschied vom Wald“. Dieser Wald ist nicht erst seit der ruchlosen Tat des baumfeindlichen irischen Fanatikers Bonifatius ebenso überdeterminiert wie gefährdet. Zu römischen Hoch-Zeiten bereits machte ein kleines Partisanenheer um Hermann den Cherusker im Teutoburger Wald gegenüber einer ganzen römischen Legion die Schmach wett, dass die Germanen ansonsten nur allzu willig mit den Besatzern kollaborierten und dadurch ihre Freiheit und das wilde Waldleben verrieten, die selbst der römische Geschichtsschreiber Tacitus so gelobt hatte, dass daraus in Italien eine richtige „Germanenmode“ und „Waldverherrlichung“ wurde.

Noch im Herbst 1943 machte sich ein SS-Sonderkommando auf in das norditalienische Fontedamo, wo die Männer das taciteische Urmanuskript rauben wollten, nachdem Mussolini diese famose deutsche Gründungsurkunde bereits dem Führer als Geschenk versprochen hatte – jedoch nicht mehr selbst dazu gekommen war, sie ihm auch zu übergeben. Das Manuskript – Codex Aesinas – hatten die Italiener jedoch rechtzeitig in einem Vorratskeller versteckt, sodass die Deutschen unverrichteter Dinge wieder abzogen.

Schon bald hatten sie sowieso andere Sorgen: nämlich in den kalten Nachkriegswintern 1945 bis 47 ein Brennholzproblem, dem bald ganze Wälder zum Opfer fielen. Erst als alle Schornsteine wieder rauchten, erinnerte man sich auch wieder an den deutschen Wald – als eine vergängliche Nationalressource. Der Jammer über seinen Zustand war so groß, dass das Wort „Waldsterben“ bald in aller Welt von Umweltschützern auf Deutsch übernommen wurde.

In diese Spanne – zwischen Teutoburger Wald, Buchenwald und Waldtrauer – gehören auch zwei künstlerische Bewältigungen der Waldproblematik: Ernst Jüngers nachkriegsdeutscher Entwurf eines leichten Privatpartisanentums, „Holzwege“, sowie die schweren Waldmythen des im Odenwald lebenden Malers Anselm Kiefer.

Aus Frankreich kam zur selben Zeit – von der Pariser Philosophie – der Anstoß, sich endlich vom „europäischen Baum- und Wurzeldenken“ zu verabschieden – zugunsten eines eher nomadischen Rhizom-Begriffs. Dieser sorgte besonders bei den Deutschen für Furore, bei denen noch kurz vorher ein lückenloser Stammbaum über Wohl und Wehe ihrer Lebensläufe entschieden hatte. Darüber hinaus war damit aber auch gemeint, sich endlich von allen Führungskraft-Anstrengungen und der Sehnsucht nach Vertikalität überhaupt zu entbinden.

Heute spricht hier schon fast jeder von „flachen Hierarchien“ und sogar die deutsche Forstwirtschaft lässt sich vom „Outsourcing“ anstecken. In der FAZ wurde kurz nach der letzten Waldzerstörung am 16. Juli „Die Pflanzenseele im Zeitalter der Stadtbegrünung“ diskutiert, denn „nie war der Baumhass größer als heute“, klagen angeblich „Beobachter“ und sprechen von einer „professionellen Abhackmentalität“, die als „Baumpflege“ verkauft wird. Der Autor Ulrich Holbein schwang sich deswegen zu einem gütlichen Vorschlag auf, um den „alten Zwist zwischen heidnischer Baumvergötterung und baumfällenden Christen“ zu schlichten. Dabei ging er von dem (germanischen?) Zusammenhang zwischen „geistlicher Erleuchtung und Fotosynthese“ aus – nach Art einer „Vernetzung“ oder „morphischen Resonanz“ vielleicht? – und empfahl den deutschen „Baumfreunden“, doch einfach in der ununterbrochenen Zeitungs- und Buchproduktion das aktuelle Murmeln der „Baumgeister“ zu vernehmen.

Die FAZ-Redaktion gab dem gegenüber jedoch bereits in der Bildunterschrift zum Thema zu bedenken, dass dieser Vorschlag nur bis zur Durchsetzung des „papierlosen Büros“ gelte. Dann nämlich brauchen wir endgültig keine Texte mehr, die sich einem Baumopfer verdanken – wenn schon sonst nichts.

Bis jetzt ist aber eher eine sogar noch anschwellende Papierflut zu verzeichnen, die sich thematisch immer öfter mit Bäumen befasst – und so deren „geistliche“ Impulse quasi kurzschließt: überbrückt. Mit Titeln wie „Baumgenossen“, „Was die Bäume sagen“, „Geist der Bäume“, „Die Botschaft der Baumfrau“ und „Die Frau in den Bäumen. Eine Biologin erforscht das Leben in der Baumkrone“. Nicht zu vergessen, bebilderte Verkaufskataloge über „Baumhäuser – weltweit“. Daneben gibt es längst populärwissenschaftliche Zeitungen, die sich derart spezialisiert haben, dass sie sich nur noch mit Birken, Weiden oder Ahorn zum Beispiel beschäftigen.

In Großdiashows zeigt man „Die schönsten Baobab-Bäume der Welt“ und „Die teuersten Bonsai“. In Talkshows über hiesige Waldstreifen werden Schweigeminuten eingeblendet. Schulklassen übernehmen Baumpatenschaften – und denken sich englische Vornamen für ihre einstämmigen Lieblinge aus. Bürgerinitiativen kämpfen mit Baumschulen für weitere Alleen.

Wenn das papierlose Büro nicht bald kommt, dann treten die letzten alten Bäume womöglich noch selbst an die Stelle der jungen Autoren – mit Titeln wie „Die Laubacher Linde – in Selbstzeugnissen“ und „Wenn der große Ilex erzählt. Geschichten aus dem Unterholz“. Das rhizomatische Denken dagegen wird wieder in die Kleinverlage abgedrängt – wo es auch hingehört. Denn das haben ja angeblich sogar die Bäume bereits begriffen: Es gilt, ein Kleinwerden zu schaffen, wo alles individuell nach oben strebt.

Aus Westafrika kam dazu bereits der (filmische) Vorschlag – von einigen Bäumen: sich einfach hinzulegen! Und sonst weiter nichts zu tun. By the way: Schon Tacitus hatte über die Germanen einst geurteilt: „Kein Volk gibt sich so gerne dem Nichtstun hin!“ – Nun aber nicht mehr unter, sondern neben einem Baum.

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