: Europa braucht Streit
Der EU-Konvent diskutiert die Form, nicht den Inhalt der europäischen Integration. Dabei hemmt nicht ein Mangel an Demokratie die Einigung, sondern ein Mangel an Politik
In Brüssel – auf dem EU-Konvent unter Präsidentschaft von Giscard d’Estaing – entsteht gerade so etwas wie die künftige Verfassung Europas. Beteiligt sind Parlamentarierinnen aus den bisherigen und den zukünftigen Mitgliedsländern, Mitglieder des Europäischen Parlaments so wie Regierungsvertreter der Mitgliedsstaaten. Auch Zivilgesellschaftliche Akteure, insbesondere Nichtregierungsorganisationen, werden einbezogen.
Ihre Arbeit ist von nie da gewesener Transparenz. Anders als bei bisherigen abgeschlossenen Vertragsverhandlungen auf Regierungsebene kann der Stand der Arbeiten verfolgt werden. Dennoch birgt die Arbeit des Konvents die Gefahr, dass er sich lediglich mit institutionellen Fragen beschäftigt, also mit der Rolle von Parlament, Rat und Kommission, der Kompetenzabgrenzung und der Vereinfachung der Verträge. Für die Zukunft Europas entscheidende Punkte drohen einmal mehr auf der Strecke zu bleiben.
Hierzu gehört insbesondere die Frage, wie sich Europa weiter zu einer Union entwickeln kann, die die sozialen und ökologischen Anliegen und Ängste der Menschen ernst nimmt. Dieses Problem muss der Konvent angehen und kontrovers diskutieren. Denn das Hauptproblem der europäischen Integration ist nicht etwa ein europäisches Demokratiedefizit, sondern ein europäisches Politikdefizit.
Viel zu oft ersticken Diskussionen über europäisierte Themen in einem allgemeinen Konsensbedürfnis von Europa-enthusiastischen Vertretern von Parteien und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Alle haben sich lieb – kontroverse Diskussionen, wie sie in den Nationalstaaten täglich stattfinden, fehlen. Dies resultiert aus der Angst, jegliche Kritik an der EU gefährde das europäische Projekt. Dabei verlaufen die Konfliktlinien auf europäischer Ebene ähnlich wie auf nationaler. Vor lauter Euro-Enthusiasmus werden ständig die positiven Errungenschaften Europas thematisiert, anstatt eigene Gesellschaftsentwürfe zu präsentieren und offensiv politisch für sie zu streiten.
Bei den Befürwortern eines weiteren Zusammenwachsens der EU herrscht das Gefühl vor, die Brüsseler Politik sei besser als ihr Ruf, nur habe dies das ignorante Publikum bisher noch nicht bemerkt. Doch die „Europäer“ müssen einsehen, dass die Bürgerinnen der Gemeinschaft nur über den politischen Prozess mit den europäischen Institutionen und Entscheidungsträgern vertraut werden. Wir brauchen einen europäischen politischen Diskurs. Dazu ist es nicht notwendig, ein europäisches Volk zu schaffen oder Nachhilfe im europäischen Bürgertum zu erteilen. Notwendig ist vielmehr ein entsprechendes Selbstverständnisses der europäischen Parteien und Zivilgesellschaft.
Die These, politische Parteien seien nicht mehr unterscheidbar, ist falsch, auch auf europäischer Ebene. Innerhalb der praktischen Gestaltung des europäischen Sozialmodells gibt es deutliche Unterschiede. In weiten Bereichen des Umweltschutzes, des Schutzes der Arbeitnehmer und Verbraucherinnen, des Wettbewerbs-, Beihilfe- und Kartellrechts, der Agrar-, Handels- und Verkehrspolitik sowie der Gleichstellungspolitik hat die Gemeinschaft schon jetzt ausschließliche oder ergänzende Kompetenzen der Rechtsetzung und Überwachung.
Viele der Probleme, die den Menschen Angst bereiten – innere und äußere Sicherheit, Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung, Umweltschutz, Regulierung der Finanzmärkte – können nicht mehr im nationalen Alleingang bewerkstelligt werden. Hierzu bedarf es Europa. Es ist von entscheidender Bedeutung, darüber zu streiten, wie diese Probleme gelöst werden. Bisher verläuft die Konfliktlinie an der Frage, ob ein Vorschlag eher die Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten stärkt. Im Mittelpunkt stehen sollte nicht diese Machtfrage, sondern die Bürger der Gemeinschaft.
Um die wichtigen Verordnungen und Regelungen der EU beeinflussen zu können, ist es nötig, sich in die Niederungen konkreter Rechtsvorschläge zu begeben und solche zu entwickeln. Derzeit befindet sich im europäischen Gesetzgebungsverfahren eine Novelle des europäischen Vergaberechts, die, ab bestimmten Schwellenwerten, die öffentliche Auftragsvergabe regelt. Es sind grundlegende Entscheidungen darüber zu treffen, inwieweit soziale und ökologische Aspekte Berücksichtigung finden, wenn der Staat Güter oder Dienstleistungen kauft. Dabei geht es um ein Volumen von 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Gemeinschaft.
Bei der Diskussion um die Daseinsvorsorge, wie sie sich exemplarisch an dem Streit um die deutschen Sparkassen und Landesbanken gezeigt hat, ging es im Kern um die Frage, inwieweit demokratisch legitimierte öffentliche Wirtschaftsintervention noch zulässig ist. Dies sind hochpolitische Punkte, die politisch diskutiert werden müssen. Doch das ist nur möglich, wenn sich die Parteien auch auf europäischer Ebene als politische Akteure verstehen und die Medien die Unterschiedlichkeit von politischen Konzeptionen auch erkennen und darstellen.
Allerdings enthalten Vertragswerk und Struktur der EU noch zu viele Bestimmungen, die einer wirklichen Politisierung im Wege stehen. Dies resultiert aus der Konzeption seiner Gründungsväter, ein weitgehend entpolitisiertes europäisches System mit ebensolchen Institutionen zu schaffen, das vor allem als Wirtschaftsraum funktionieren sollte. „Das Recht hat die Macht, nicht die Macht das Recht“, proklamierte Walter Hallstein, der erste Präsident der Kommission. Damit war das Konzept der Rechtsgemeinschaft geboren, welches als europäische Erfolgsstory gilt. Doch was damals richtig war, muss heute nicht mehr stimmen.
Die europäische Integration hat ein früher nicht vorstellbares Niveau erreicht. Deshalb stellen sich heute die genannten Probleme, die politisch gelöst werden müssen. Es ist Zeit, dies anzuerkennen. Auch der Konvent muss die Weichen richtig stellen, damit Europa sich zu einem Gemeinwesen entwickelt. Dabei sind Forderungen nach einem vollen Mitentscheidungsrecht des Parlaments richtig. Übersehen wird, dass in fast allen Bereichen, mit Ausnahme der Agrarpolitik, schon mit entschieden wird.
Viel wichtiger ist, das bisherige Vertragswerk von seiner neoliberalen Ausrichtung zu befreien. Die zwischenstaatlichen Verträge enthalten, anders als die mitgliedstaatlichen Verfassungen, detaillierte Vorgaben über die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Gemeinschaft. Kontrolliert wird diese weitgehend von der Kommission, einem völlig entpolitisierten Gremium. Neben ihrer notwendigen Politisierung muss auch das Vertragswerk so umgestaltet werden, dass Politik in größerem Ausmaß als momentan möglich ist. Nur wenn dies gelingt, wenn die Probleme der Menschen nicht nur mit Floskeln, sondern mit identifizierbaren politischen Aktionen angegangen werden, wird Europa sein Legitimitätsproblem überwinden. Dazu muss der Konvent jetzt die Weichen stellen. PHILIPP STEINBERG
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