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Alles verändern, damit sich ja nichts ändern muss

Börsencrash und Wirtschaftskrise haben bei den Wählern die Bereitschaft zu Einschnitten gedämpft. Die Parteien haben sich schnell angepasst

BERLIN taz ■ Im Wahlkampf 1998 hatte es die SPD meisterhaft verstanden, mit dem Widerspruch zwischen abstraktem Reformanspruch und konkretem Beharrungsvermögen zu jonglieren. Der Wahlslogan „Innovation und Gerechtigkeit“ stand für die Kunst, der „neuen Mitte“ eine Politik des „dritten Weges“ mit mehr Eigenverantwortung zu versprechen – und zugleich der sozialdemokratischen Stammklientel die Rücknahme der wenigen, zaghaften Reformen der Kohl-Ära in Aussicht zu stellen.

Dass dieses Konzept im Wahlkampf 2002 nicht mehr funktioniert, liegt nicht nur an der veränderten Rolle der SPD als Regierungspartei. Börsencrash und Wirtschaftskrise haben die Bereitschaft der Wähler deutlich gedämpft, auf staatliche Leistungen zu verzichten. Ernüchtert mussten beispielsweise Millionen von Beitragszahlern erfahren, dass die private Rentenvorsorge nicht in jedem Fall verlässlicher ist als die staatliche Umlage. Die hohe Gewinnbeteiligung, mit der die Versicherer ihre Produkte einst anpriesen, ist durch die niedrigen Aktienkurse kräftig zusammengeschrumpft.

Der Wähler, das umworbene Wesen, wird von den SPD-Strategen diesmal in Watte gepackt. Seit nahezu einem Jahr erproben die Sozialdemokraten die verschiedensten Slogans, die den Bundesbürgern suggerieren: Alles kann so bleiben, wie es ist. Es begann im vorigen Jahr mit der „Sicherheit im Wandel“ und hatte mit dem „Deutschen Weg“ bereits einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Jetzt bietet das Hochwasser dem Kanzler eine willkommene Gelegenheit, sich als Garant der Stabilität in unsicheren Zeiten zu präsentieren.

Verglichen mit der sozialdemokratischen Stammwählerschaft war die aufstiegsorientierte Mittelstandsklientel der Grünen bislang für Reformen vergleichsweise aufgeschlossen. Aus der Perspektive des abgesicherten bürgerlichen Milieus galt Kritik an höheren Benzinpreisen oder geringeren Renten als kleinkariertes Genörgel. Das hat sich gründlich geändert: Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik müssen auch Angehörige der Bildungsschicht, die sich beruflich bereits etabliert haben, um ihre Arbeitsplätze fürchten.

Den neuen Wünschen ihrer Wählerschaft hat sich die Partei schnell angepasst. Von den radikalliberalen Konzepten eines schlanken Staats, wie sie der scheidende Haushaltsexperte Oswald Metzger vertrat, ist bei den Grünen keine Rede mehr. Heute zieht es Spitzenkandidat Joschka Fischer vor, wortreich den „Sozialabbau“ unter der Regierung Kohl zu beklagen: „Ich hörte die ganzen Jahre das Klappern der Schere.“

Die FDP versteht es von den deutschen Parteien am besten, das schizophrene Wählerbewusstsein zu bedienen. Mit dem Slogan „Machen, machen, machen“ feierte sie zuletzt ihren Triumph in Sachsen-Anhalt, und doch wacht sie argwöhnisch darauf, dass die Privilegien ihrer mittelständischen Klientel nicht angetastet werden – ganz nach dem sizilianischen Prinzip, alles zu verändern, um nur ja nichts ändern zu müssen.

Und die Union versucht in diesem Wahlkampf, die Sozialdemokraten bei den großen Reformthemen links zu überholen. Der autonome Bürger ist in Krisenzeiten weniger denn je das konservative Ideal – sondern der starke, aber eben auch fürsorgliche Staat. Theoretisch ist zwar jedem Wähler klar, dass der Staat nicht ständig mehr Geld ausgeben kann, als er einnimmt. Aber praktisch lassen sich mit Sparpolitik noch immer keine Wahlen gewinnen.

Was Stoiber diesmal gegen Schröder und seinen Sparkommissar Hans Eichel versucht, hatten die Christdemokraten erstmals 1999 im chronisch klammen Stadtstaat Berlin erprobt. Der damalige CDU-Bürgermeister Eberhard Diepgen polemisierte gegen den herzlosen Sparkurs seiner SPD-Finansenatorin – und fuhr damit das beste Ergebnis ein, das die Berliner Union je hatte. Wenig später brach das System des skrupellosen Geldausgebens in der Berliner Bankenkrise allerdings zusammen. RALPH BOLLMANN

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