: b.e.r.l.i.n.
von KARIN PRITZEL
Wer kennt schon die ganze Wahrheit über Berlin? Nein, in Neukölln lässt man sich nicht nieder. Dann schon eher in Kreuzberg, oder eben Prenzlauer Berg. So sagen Zugezogene. Und irgendwie kenne ich auch nur, abgesehen von der alten Großkusine, Zugereiste. Job, Studium, selten die Liebe, der man gen Big Börlin folgte. Und alle finden es spannend. Was für ein Wort. Im Grunde genommen nichts sagend. Und Interpretationshilfe bekommt man nur selten geboten.
Also aus dem Bauch heraus spontan 10 Begriffe zum spannenden Berlin: 1. groß, 2. schlechter Tatort, 3. kein Zentrum, 4. ehemals 4,50 Mark für eine U-Bahn-Fahrt, 5. Russendisko von Kaminer, 6. Baustellen, 7. Schlosspläne (bei dem Finanztopf?!), 8. wunderbar grüne Umgebung (zählt dann aber doch schon zu Brandenburg), 9. Freitag, 22.15 Uhr: Bericht aus dem Hauptstadtstudio, 10. ich kenne keinen einzigen Berliner, der wirklich berlinert. Vorurteile oder Halbwahrheiten? Seitdem überregionale Zeitungen aus Finanzgründen ihre Berlin-Seite eingestellt haben, ist man nicht mehr wirklich auf dem Laufenden.
Und der Berlin-Korrespondent des Lokalblatts schreibt und schreibt gegen den regierungsenthusiastischen Schröder und den Vorzeigegrünen Fischer. Springer-Presse halt. Womit wir ja eigentlich wieder in Berlin sind, zumindest im historischen. Damals, als die Mauer erst ein paar Jahre alt war. Heute ist sie schon lange wieder weg, aber so richtig eins scheint Ost und West noch nicht zu sein. Zumindest von außen mit dem Provinzblick betrachtet. So lassen nicht nur Wahlergebnisse auf nach wie vor unterschiedliche Präferenzen und Politikwahrnehmungen schließen. Auch optisch scheinen sich die wahren Ost- und Westberliner voneinander zu unterscheiden.
Die klassische Wilmersdorfer Witwe, der seit Jahrzehnten auf Momper, dann auf Diepgen, heute auf Wowereit schimpfende Wedding-Proll auf der (West-)Seite. Auf der anderen (East) Side Muttilook mit Jugendweihecharme der Mitte-80er. Oder aber Thierse-Typ in jungen Jahren. Noch immer die Welt vom Buchregal aus revolutionieren wollen. Stereotype? Nein, mit eigenen Augen gesehen. Alte Zeiten haben anscheinend den (Berliner) Jahrtausendsprung geschafft. Stillstand trotz Regierungsumzug, täglichen Richtfesten, Höher-schneller-weiter-Rekorden? Ich will es nicht hoffen. Denn schließlich liegt zwischen dem damaligen Bonn am Rhein und der Millionenmetropole Berlin dann doch ein deutlicher Quantensprung: Dämmerschlaf mit Volksmusik vs. politisches Schaulaufen auf der Love Parade.
Lamentieren ist nicht, von wegen Verwässerung durch Skandale und Skandälchen, von wegen politische Luftblasen statt Jahrhundertreden. Seit dem Umzug nach Berlin scheinen wieder Positionen gefragt. Wenn Müntefering oder Merkel kampfgestählt vors Mikrofon ihrer Zentralen treten, werden Worthülsen zu Kampfbomben. In einem Atemzug den Gegner platt machen und lächelnd den roten Teppich der Berlinale entlangschreiten.
Mediale (Berliner) Realität? Fernab der eigentlichen Politbühne setze ich auf Bilder, auf Kommentare, auf Zeitungsschwärze. Meine Freunde in Berlin übrigens auch. Denn mittendrin statt nur dabei ist nicht, da oben im Norden. Dafür ist die Metropole an der Spree dann doch zu groß, zu anonym, zu unüberschaubar.
Gutes und Böses gingen von ihr aus, hier werden Kunst, Geschichte, Politik und all die kleineren und größeren Skandale gemacht. Aber vielleicht macht gerade das Berlin zur einzig wahren Hauptstadt unseres Landes. Es wird schon so sein, dass Berlin den Rhythmus für den nationalen Herzschlag vorgibt. Doch die wirkliche Berliner Wahrheit kennt wohl kaum einer. Weder die Zugereisten noch die Einheimischen. Womit der Beweis der Wahrhaftigkeit der 10 Provinz-Assoziationen wohl für ewig auf Eis gelegt ist.
Karin Pritzel, 27, kommt aus dem thüringischen Meiningen, studierte in Leipzig Kommunikation und Politik und arbeitet dort in einer PR-Agentur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen