: Soziale Schieflage am verbauten Hang
taz-Serie „Berliner Bergwelt“: Die Rollberge gibt es eigentlich gar nicht mehr. Der Proletarierkiez, der an ihrer Stelle wuchs, war elend und umkämpft. Heute erhebt sich hier eine Wohnmaschine mit Problemen
von CLAUDIUS PRÖSSER
Auch für Berge gelten gewisse Mindeststandards. Ein Gipfel sollte schon sein. Mit Aussicht: noch besser. Berge haben Hänge, auf wenigstens zwei Seiten. Die Neuköllner Rollberge haben keinen Gipfel und keine Aussicht. Genau genommen sind sie gar nichts weiter als ein Hang. Noch genauer: Die Rollberge gibt es gar nicht. Nicht mehr. Nur diesen merkwürdigen Namen.
An dem scheiden sich die Geister der Namenskundler. Gängig ist der Verweis auf das rollende Gewerbe, auf die Lage zwischen zwei Ausfallstraßen. Dunkel ein nicht näher erläuterter „volkstümlicher Brauch“, umstritten die Variante, die Eiszeitgletscher hätten die Hügel nach Berlin „gerollt“. Dabei waren die Rollberge, erdgeschichtlich betrachtet, tatsächlich nichts weiter als Geröll, vor Jahrtausenden von einer bergdicken Gletscherzunge an den Rand des Teltows geschoben, einer älteren Grundmoräne, die weit in die heutige Stadt hineinlappt. Wo heute die Werbellinstraße den Verkehr von der Hermann- in die Karl-Marx-Straße hinunterspült, sind die 30 Meter Moränenkante zu spüren.
Auf dem Fahrrad lässt sich der alte Berg noch am ehesten erfassen. Dass die Stadt hier am Hang gebaut ist, dafür ist ein beschleunigter Puls gültiger Beweis. Erst recht bei Gegenwind. Und wirklich: Bis ins 19. Jahrhundert profitierte die einstige Hügelgruppe vis-à-vis des alten Rixdorf insbesondere vom Wind. Sicher, Landwirtschaft wurde auch betrieben, zu gewissem Ruf brachte es der Rixdorfer Kohl. Lukrativer war jedoch der Bau von Windmühlen. Vierzehn Stück mahlten zuletzt auf den luftigen Kuppen.
Dann begann die wahre Erfolgsgeschichte der Rollberge: die ihres Verschwindens. Als nach 1850 die Berliner Industrie im Boom massenhaft Menschen ansaugte, entdeckte man den eigentlichen Wert des mäßig fruchtbaren Bodens: Dicke Sand- und Kiesschichten lagerten unter der lehmigen Oberfläche, Rohstoffe für den rasanten Ausbau der benachbarten Metropole. Eine jahrelange Maulwurfsarbeit begann, zurück blieb eine Kraterlandschaft. Wenn man so will, sind die Rollberge nicht wirklich verschwunden – sie haben sich nur über die gesamte Stadt verteilt.
Heute liegt bisweilen ein malziger Dunst schwer auf der Gegend: Dann hat die Kindl-Brauerei ein Bäuerchen gemacht. Ihr expressionistischer Klinkerturm nebst Sudhaus und Lagerhallen macht sich nördlich der Werbellinstraße breit. Die Brauerei ist einer der größten Arbeitgeber in der strukturschwachen Umgebung. Das war schon 1872 so, auch wenn die neu gegründete „Vereinsbrauerei Berliner Gastwirthe, Actiengesellschaft“ erst einen Nachbarkiez auf den geschleiften Rollbergen hatte: Zwischen der namenlosen Straße nach Britz und der Berliner Straße wuchs aus dem Bergsockel das erste geschlossene Arbeiterquartier vor den Toren Berlins.
Während die Einwohnerzahl Berlins in wenigen Jahrzehnten über die 3-Millionen-Marke kletterte, wuchs auf den Rollbergen ein proletarischer Kiez, immer schneller, immer dichter. Pläne aus den 1890er-Jahren zeigen das Quartier als Solitär zwischen unentschlossenen Siedlungssprengseln und den ausgelagerten Kirchhöfen Berliner Gemeinden. Bis 1913 war das schmale Straßengitter, fünf quer mal drei längs, hermetisch zugebaut, ohne Grünfläche, ohne Plätze.
Mit dem Zustrom von Familien aus dem deutschen Osten ließ sich im alten Rollbergviertel trefflich Geld verdienen. Kaum ein Quartier hatte eine derart schlechte Bausubstanz, die Bauherren verwendeten billigstes Material für Wohnungen auf niedrigstem Ausstattungsniveau. Zum Ruf als miserablem Kiez ohne Licht und Luft gab’s den als Brutstätte der Kriminalität gratis dazu, zumal die Rollberger Proleten den bürgerlichen Rixdorfern ohnehin ein Dorn im Auge waren. Mehr als einmal berichtete die Lokalpresse von ausufernden „Messeraffairen“ als Nebenprodukt der „sich in Rixdorf ansammelnden Arbeiterbevölkerung“.
So viel Elend politisiert einen Kiez. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Rollberge zum Bollwerk von Sozialdemokraten und Kommunisten, an Arbeiterfeiertagen schmückten hunderte rote Fahnen die Fassaden. Man war solidarisch: Ließ der Hausherr einem zahlungsunfähigen Mieter die Möbel auf die Straße stellen, waren Genossen zur Stelle und schleppten alles wieder die Treppen hoch, so lange, bis Geld für die Mietschulden aufgetrieben war. Die Eckkneipen, in denen sich SPD- oder KPD-Anhänger allabendlich trafen, waren Legion: Revolution bei Molle und Korn.
Im Mai 1929, im „Blutmai“, mussten die Rollberger ihre Aufsässigkeit teuer bezahlen. Der Polizeipräsident hatte Versammlungsverbot verhängt, auf den Rollbergen wuchsen Barrikaden aus Pflastersteinen und Bäumen. Nach fünf Tagen Scharmützel hatte die Polizei 19 Menschen erschossen. „Barrikadenviertel“ nannte der Volksmund die Rollberge danach, oder „Bullenviertel“. Den Nazis fiel es schwer, das widerspenstige Quartier zu infiltrieren. Selbst Jugendweihen wurden noch lange nach 33 heimlich gefeiert.
Heute steht, Briese- Ecke Falkstraße, merkwürdig fremd ein Altbau zwischen Flachdach und Schallschutzfenster, einer der ganz wenigen, die den Kahlschlag der Sechziger- und Siebzigerjahre überlebt haben. Unten tatsächlich eine Eckkneipe. Von revolutionären Umtrieben ist hier nichts mehr zu spüren: Was da sein Tischchen vor die Tür gerückt hat, trägt Adiletten und Bauchbeutel, zu Füßen liegt angeleint der Staffordshire-Welpe.
Auch sonst ist hier alles anders, kein Hauch von proletarischer Romantik. Das in den 1970er-Jahren hochgezogene Viertel auf der oberen Hanglage der Rollberge ist eine in Beton gegossene Utopie der humanen Wohnmaschine. Alles hier hat seinen Bereich, seinen Platz, seine Funktion, nichts dominiert. Der Anwohnerverkehr taucht an den Rändern unter die auf „High-Decks“ gelegenen Fußgängerwege ab, auf der dicht begrünten zentralen Promenade reihen sich die Spielgeräte. Die Fassaden der quadratischen Wohnkomplexe – je 6 Geschosse, 180 Wohnungen, 28 Wohnungstypen – sind bis auf die Farbe der Fensterrahmen austauschbar, der Blick perlt von ihnen ab. Nicht wenige verfluchen heute die städtebauliche Hybris, ein komplettes Altbauquartier einfach abzureißen, mit Giebelchen und Türmchen und tonnenweise Stuckwerk.
Vieles rechtfertigt der Rückblick: Bis in die 1960er-Jahre hinein änderte sich an der baulichen Substanz des im Krieg kaum zerstörten Rollbergviertels fast nichts. Noch 1963 verfügten 78 Prozent der Altbauwohnungen hinter den klassizistischen Fassaden nur über Toiletten auf halber Treppe oder im Hof, ein eigenes Bad hatten 13 Prozent. Eine Studentin, die 1969 die Lebensbedingungen in der Kienitzer Straße untersucht, notiert: „In der Küche steht ein altes Küchenspind, in der einzigen Stube befinden sich zwei Betten und ein Pappkarton für die Kleidung. Das Kind schläft auf einer Decke auf dem Fußboden.“ In vielen Häusern gibt es pro Stockwerk nur zwei Eingangstüren. Dahinter ein Flur, zwei Küchen zum Hof, zwei Stuben zur Straße, am Ende noch eine Einraumwohnung. Manche Mieter müssen ein fremdes Wohnzimmer auf dem Weg in ihres durchqueren.
Damit sollte endlich Schluss sein: 1964 stimmte das Abgeordnetenhaus den Plänen zur Sanierung der Rollberge zu. Die Politik verkündete die „Abschaffung menschenunwürdiger Wohnverhältnisse“, eine „Neugestaltung des Gebiets, die der heutigen Auffassung von Wohnen und Arbeiten in einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat entspricht“. Eine Modernisierung der Altbauten wurde verworfen, die Entscheidung lautete „Flächensanierung“ – „Kahlschlagsanierung“ im Jargon heutiger Bewahrungsfreudigkeit.
Bis 1973 erwarb die Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land die meisten Grundstücke. Von unten nach oben wurde das Quartier aufgerollt, der Neubebauung in Etappen ging das Vokabular der Eliminierung voran: „Entmietung“ von Wohnungen, „Freimachung“ von Blöcken, „Aufhebung“ von Straßen. 5.000 Wohneinheiten wurden gesprengt, rückgebaut, abgetragen. „Das alte Rollbergviertel wird bald Vergangenheit geworden sein“, frohlockte eine Senatsbroschüre und versprach: „So wird es in Kürze aussehen: Sonnige, moderne Wohnungen, ein ruhiger Hof, wo die älteren Bewohner den Kindern beim Spielen zuschauen können.“ Dreißig Jahre später fällt der Blick in das geräumige Innere eines Wohnquaders auf trockenen Rasen. Wenige Mietergärtchen schotten sich mit Zäunen ab. In der Mitte bewacht ein Wackelpferd ein zugewuchertes Sandrondell.
Lebendiger geht es im zentralen Bereich des Quartiers zu. Kinder pflügen durch den Sand, Bälle werden durch Käfige gebolzt, Mobiltelefone dudeln orientalische Weisen: 36 Prozent der heutigen Rollberger haben keinen deutschen Pass. Der Mieterbeirat konstatiert interkulturelle Reibungen. „Hier wohnen 36 Nationalitäten“, weiß eine Mitarbeiterin, „da ist so was unvermeidlich.“ Die Aversionen seien gegenseitig: „Deutsche stören sich daran, dass die türkischen Kinder abends noch auf der Straße spielen. Und Muslime beklagen sich, dass hier viele Betrunkene herumlaufen.“ Das zentrale Problem des Viertels ist, wie früher schon, seine soziale Schieflage: Ein knappes Drittel hat keine Arbeit, fast ebenso viele beziehen Sozialhilfe.
Säumten in den alten Rollbergen Trödelläden und Kneipen die Sockelgeschosse, hat das neue Quartier eine überbordende soziale Infrastruktur an ihre Stelle gesetzt: Schulen, Kitas, Jugendtreffs, Altenheim, Gemeindezentrum. Ein Beschäftigungsträger schafft ABM- und SAM-Stellen. Seit 1999 betreibt der Humanistische Verband Quartiersmanagement: mit Mieterzeitschrift und Balkonwettbewerb und interkulturellem Sommerfest. Mittwochs kochen „Mieter für Mieter“ im Gemeinschaftshaus an der Morusstraße, mal afrikanisch, mal schwäbisch.
Trotzdem – der Mieterbeirat hat unlängst eine Protestnote an den Stadtentwicklungssenator geschickt. Die Mieten seien trotz Abschaffung der Fehlbelegungsabgabe zu hoch. Wer ein besseres soziales Umfeld suche, finde auf dem freien Markt preiswertere Wohnungen: „Wir befinden uns weiterhin auf dem Wege zum ‚schönsten Slum‘.“
Wirklich schön: die Rückkehr ins Tal über den Mittelweg, eine alte Diagonalverbindung der beiden Ausfallstraßen. Ganz oben, wo er krumm und schmal beginnt, ist es still und fast romantisch. Grobes Kopfsteinpflaster, grünes Gewucher an den Zäunen, Gaslaternen. Alles überragend der Wasserturm, eine wuchtig runde Klinkermasse. Weiter unten, hinter den Friedhöfen, die Thomas- und die Lessinghöhe. Die beiden Parkanlagen sind wohl der einzige Ort, an dem die alten Hügel noch im Profil der Rasenflächen zu erahnen sind. Eine Propellermaschine überfliegt die Dächer beängstigend niedrig. Unten, am Fuß der Rollberge, stürzte im vergangenen Jahr eine Sportmaschine beim Anflug auf Tempelhof in einen Hinterhof. Zwei Menschen starben. Eine kleine Katastrophe, damals, im Mai 2001.
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