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Vorbild: Willy Brandts Ostpolitik

Auf dem Historikertag widmen sich die professionellen Geschichtsdeuter der Rolle der Religion nach dem 11. September 2001. SPD-Außenpolitiker Klose kritisiert kaum verhohlen den Regierungskurs in der Irakfrage: Auch Wirkung im Ausland bedenken

aus Halle RALPH BOLLMANN

Die deutschen Historiker wollten mit der Diskussion über „Ursachen und Folgen des 11. September“ auf ihrer Tagung in Halle gerade beginnen, da meldete sich ganz hinten ein älterer Herr zu Wort. Ob man denn keine Gedenkminute für die Opfer des Terrors einlegen wolle? Das Aufstöhnen im Saal war nicht zu überhören – aber keine wagte es, zu widersprechen. Alle standen auf, die Minute jedoch dauerte nur 20 Sekunden.

Zumindest in einem Punkt ging es den berufsmäßigen Geschichtsforschern gestern nicht anders als den meisten anderen: An den viel zitierten Satz, seit dem 11. September habe sich alles geändert, mochten sie nicht recht glauben. Und beängstigender als den Terror selbst fanden sie die Frage, wie die Amerikaner auf ihre neu entdeckte Verwundbarkeit reagieren werden.

So diagnostizierte der Heidelberger Politologe und USA-Experte Detlef Juncker einen grundlegenden Richtungswechsel der amerikanischen Außenpolitik, in der sich eine neue Bedrohungsanalyse mit religiösen Motiven vermische. Den US-Präsidenten bezeichnete er gar als „Gotteskrieger im Namen der Freiheit“. Auch der SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, sah eine zunehmende kulturelle Kluft zwischen Europa und den USA: „Die Amerikaner verstehen nicht viel von Europa, und die Europäer nicht viel von Amerika.“

Allerdings kritisierte Klose die Instrumentalisierung des Irak-Themas im Wahlkampf – und damit kaum verhüllt auch den Bundeskanzler. Angesichts der deutschen Debatte sträubten sich „jedem wirklichen Außenpolitiker die Haare“, sagte Klose. Bei jeder Aussage müsse man auch deren Wirkungen im Ausland bedenken. „Mir scheint es nicht so zu sein, dass dieses Problem im Mittelpunkt der Diskussion in Deutschland stünde“.

Eines immerhin habe sich durch den 11. September in Deutschland geändert, stellte der Hallenser Orientalist Jürgen Paul fest: Das Interesse am Islam sei sprunghaft angestiegen, Experten wie er seien plötzlich gefragte Interviewpartner. So richtig freuen mochte sich Paul darüber nicht. Denn das Bild, das sich der Westen jetzt vom Islam mache, sei oft verzerrt. Und angesichts von Bushs religiösem Pathos drohe jede grundsätzliche Religionskritik unterzugehen.

„Sehr enttäuscht“ zeigte sich der Hamburger Politologe und Nahost-Experte Kai Hafez über die Position des Bielefelder Historikers Hans-Ulrich Wehler, der Islam und Abendland am Dienstag in der taz für unvereinbar erklärt hatte. „Diese Art von Analyse ist diametral dem Auftrag entgegengesetzt, den wir als Historiker haben“, sagte Hafez. Er war sich mit den meisten Diskutanten einig, dass sich das Geschehen des letzten Jahres noch nicht endgültig bewerten lasse.

So sei beispielsweise die Echtheit der Videobänder, die von den Amerikanern nach dem 11. September als Beweismittel präsentiert wurden, noch nicht mit Sicherheit bewiesen: „Unsere zunftartige Skepsis müssen wir uns vorbehalten. Das hat nichts mit Verschwörungstheorien zu tun.“ Statt über den „Kampf der Kulturen“ zu reden, forderte der Politologe Hafez „einen neuen entspannungspolitischen Ansatz zwischen uns und der islamischen Welt“.

Als Modell für eine Befriedung des Nahen und Mittleren Ostens empfahl er die Ostpolitik Willy Brandts. Die Installation von neuen Protektoraten – womöglich bald im Irak – sei dagegen nur Wasser auf die Mühlen jener, die den Amerikanern einen neuen Kolonialismus unterstellten.

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