: Selbstvergessen in die Niederlage
Morgen wird das rot-grüne Experiment auf Bundesebene beendet. Stoiber statt Schröderfischer. 1972 stand ebenfalls eine Reformregierung vor der Abwahl – doch in letzter Minute erinnerten sich die Aufbrüchigen an die bleierne Zeit vor 1969
von CHRISTIAN SCHNEIDER
Wahlen, so belehren uns die dafür zuständigen Forscher, werden heutzutage auf den letzten Metern vor der Urne durch das Bauchgefühl entschieden: Dreiviertel des Wählervolks seien politisch nicht interessiert und die Entscheidung deshalb von weitgehend unpolitischen Kriterien abhängig. Weshalb die Persönlichkeitswerte der Kandidaten – zusammen mit einem nicht exakt bezifferbaren Stimmungsfaktor X – letztendlich den Ausschlag gäben.
Nun gut, dann muss es wohl tatsächlich am Faktor X liegen, dass morgen das Projekt Rot-Grün beerdigt wird. Denn warum sollte, wenn Personality entscheidet, der Medienkanzler an der Seite des mit Abstand beliebtesten Politikers der Republik die Wahl verlieren? Die Stimmung allerdings ist nachhaltig mies im Lande. Nicht nur wegen der hohen Arbeitslosigkeit – das Gesamtbild der Perspektivlosigkeit prägt die Lage. Das ist traditionell dem Machtwechsel günstig.
„Machtwechsel“ hieß das zum politikwissenschaftlichen Klassiker avancierte Buch Arnulf Barings, das den Beginn des sozialdemokratischen Jahrzehnts kommentierte, dabei die Angst der Traditionsbürgerlichen vor dem sozialliberalen Aufbruch überliefernd. Und tatsächlich, um nicht weniger ging es im Jahre 1969: Erst mit der Regierung Brandt war in den Augen vieler die Nachkriegszeit überwunden – und jenes noch viel weiter zurückreichende personalpolitische und psychostrukturelle Machtkontinuum nationalkonservativer Politik aufgebrochen.
Die Wahl, die den Wechsel bewirkte, mobilisierte einen späten Nachhall jener welthistorischen Alternative von Rechts und Links, die eine Generation zuvor jeden Einzelnen vor die moralisch aufgeladene Frage „Auf welcher Seite stehst du?“ gestellt hatte.
1969 war ein Wendepunkt der deutschen Politik. Aber nicht diese Wahl, sondern die ihr folgende von 1972 steht heute im Blickpunkt des Interesses. Die damit anvisierte Parallele lässt sich als verkürzter politologischer Dreisatz formulieren: Wenn 69 = 98, gilt dann 02 = 72? Mit anderen Worten: Wird sich das „Wunder“ wiederholen, dass die seinerzeit von den Demoskopen für die sozialliberale Regierung schon verloren gegebene Wahl nicht nur gewonnen, sondern zum größten Erfolg der Sozialdemokraten in der Geschichte der Bundesrepublik wurde?
Um das mit einem Nein zu begründen, bedarf es des Rückblicks. Mit dem Sieg der sozialliberalen Koalition formierte sich hierzulande erstmals das Bündnis derer zur parlamentarischen Mehrheit, die bis zu jenem Zeitpunkt nahezu konstitutionell von der Macht ausgeschlossen schienen. Tatsächlich war die Bundesrepublik am Ende der Sechzigerjahre, in der sich mehr und mehr die alten Milieus aufzulösen begannen, in gewisser Hinsicht eine Gesellschaft der Außenseiter – anders, aber nicht völlig unähnlich jener, für die dieser Ausdruck erfunden wurde.
„Die Weimarer Republik“, so der Historiker Peter Gay, „gab Außenseitern die Möglichkeit, Stellungen in Gesellschaft, Geschäftsleben, Universität und Politik einzunehmen, die ihnen bislang versagt worden waren.“ Bonn war zweifellos nicht Weimar, aber tatsächlich gab es in dieser Phase der Nachkriegspolitik eine erstaunliche Zahl gesellschaftlicher Gruppierungen, die von gesellschaftlichen Chancen ausgeschlossen, stigmatisiert und von der offiziellen Politik wie Minderheiten behandelt wurden.
Es waren nicht zuletzt diese Gruppen von Außenseitern, die das sozialliberale Projekt mit – teilweise übersteigerten und illusionären – Hoffnungen besetzten. Willy Brandts Formel „Mehr Demokratie wagen“ fand Gehör bei jenen, die im bisherigen Staat keinen legitimen Platz gefunden hatten.
Die sozialliberale Mehrheit war die Summe jener Minderheiten, die eine neue Republik brauchten, um ihre Projekte und Lebensentwürfe realisieren zu können: Teile der alten und neuen Linken, Verfolgte der NS-Diktatur, Pazifisten, Schwule und Lesben, das sich formierende Spektrum der Alternativen und nicht zuletzt die größte Minderheit des Landes, die Frauen, waren ebenso die Träger des neuen „Modells Deutschland“ wie jene Fraktionen der Wirtschaft, die ihre Expansions- und Marktchancen durch das Blockdenken der Konservativen beschnitten sahen.
Mehr noch: Die Stammklientel aus der Arbeiterschaft wurde durch Modelle der Partizipation – Stichwort: Mitbestimmung – in diese neue Republik der Außenseiter einbezogen; die Jugend durch die Öffnung der Universitäten. 1972 stand zur Wahl, ob diese Regierung Episode bleiben oder Kontinuität bekommen würde. Das politische Wunder geschah, weil durchs Land ein Ruck ging – ein spätes Aufschrecken all derer, die, so unzufrieden sie mit der Leistungsbilanz des linksliberalen Bündnisses im Einzelnen waren, die Bedeutung der Richtungsentscheidung für ihre persönlichen lebensweltlichen Perspektiven erkannten.
Die Bundestagswahl vor dreißig Jahren wurde dadurch entschieden, dass sich wichtige Gruppierungen der neuen parlamentarischen Mehrheit an ihren vorherigen Minderheitsstatus, den Status als Außenseiter erinnerten. Aus dieser kontrastierenden Erinnerung entstand das Bild der Alternative, das es braucht, um zählbare politische Energien zu mobilisieren.
Die Wahl von 1972 war nicht, wie Baring meinte, ein „Volksentscheid über die Ostpolitik“, sondern das Plebiszit einer Bevölkerung über die Frage, wie zu leben sei: Wie man als Bürger eines Landes leben wollte, das auf der Suche nach einem neuen Platz in der Welt war. Es war diese Verknüpfung von weltpolitischer Situierung und der persönlich gestellten Frage nach der Lebensqualität, aus der die Alternative von 1972 fühlbar und griffig wurde.
Müssten die Wahlen von 1969 und 1972 mit Gefühlen beschrieben werden, so stand beim ersten Wahlerfolg des linksliberalen Bündnisses die Hoffnung Pate – und beim zweiten die Angst. Wahlen werden bei knapper Ausgangslage stets von der Seite gewonnen, die eins von beiden für sich mobilisieren kann. Rot-Grün wird morgen in erster Linie deshalb verlieren, weil ihrer Wählerschaft dieses Gefühl der Alternative abhanden gekommen ist. Oder anders gesagt: Weil es der Koalition in vier Jahren nicht gelungen ist, die Alternative, um die es morgen geht, so zu benennen, dass die Dramatik der Entscheidung fühlbar wird.
Gerade in der Kardinalfrage „Wie wollen wir leben?“ ist die Analogie zu 1972 tatsächlich gerechtfertigt: Den wenigstens in einigen Punkten begonnenen ökologischen Umbau der Industriegesellschaft samt dem Versuch, einer liberalen Bürgergesellschaft den Weg zu bahnen, nach nur einer Legislaturperiode abzubrechen, wird tiefgreifende Folgen für die Entwicklung der Bundesrepublik haben.
Die Regierungskoalition wird das zentrale Versäumnis, dies nicht in eine verständliche Form des „Entweder – Oder“ gebracht zu haben, mit ihrer Abwahl bezahlen. Dabei enthält gerade das ökologische Ticket, für das die Grünen einstehen, sowohl die Qualität, die individuelle und die kollektive Dimension der Frage nach dem „richtigen Leben“ anzusprechen, als auch hinreichend polarisierende Potenz, um daraus eine Richtungsentscheidung abzuleiten. Es kommt bitterer Ironie gleich, dass es erst einer Naturkatastrophe bedurfte, um die Bedeutung des ökologischen Projekts in die Köpfe der Wähler zu heben.
Das Hochwasser der Elbe und einiger seiner Nebenflüsse hat mehr bewegt als der ganze grüne Wahlkampfverstand zusammen. Keine Frage, die wirklich tragische Fraktion dieser rot-grünen Endzeit und die Partei, an der man das Scheitern des sozialökologischen Experiments am deutlichsten sehen kann, sind die Grünen. Sie waren nicht nur die Partei, die das Ökothema politikfähig machte. Sie waren auch der entscheidende Katalysator jenes enormen sozialpsychologischen Prozesses, in dem sich aus dem Nachfolgestaat der NS-Diktatur eine moderne Gesellschaft entwickelte.
Keine andere Partei der Bundesrepublik steht so wie die grüne für die psychologische Transformation des deutschen Gewalterbes, das in der Umbruchszeit des ersten sozialdemokratischen Reformversuchs sinnfällig wiederkehrte: die Verwandlung von politischer Gewalt in parlamentarische Macht. Der in ihrem Vormann exemplarisch personifizierte Weg vom Straßenkämpfer zum Staatsmann, vom Außenseiter zum Außenminister ist der lange Marsch jener Generation, mit der sich die Republik gründlich erneuerte.
Gezeugt im Schatten des sozialliberalen Projekts, wurden die Grünen der Kristallisationskern für die Energien jener neuen Außenseitergruppen der Kohlära, die das Fundament von Rot-Grün wurden. Sie verkörperten expressiv und ohne Angst vor Kitsch jene Mischung aus Hoffnung und Angst, die der psychische Treibstoff politischer Richtungsentscheidungen ist. Das für die grünen Anfangsjahre typische Betroffenheitspathos wurde als Zwitter aus hysterischer Opferidentifizierung und missionarischer Gesinnungsethik gerne verlacht, auch innerhalb der grünen Partei selbst. Aber es repräsentiert eine Haltung, die dem grünen Wahlvolk bei dieser Wahl entscheidend fehlt: das Gefühl der Hingabe an ein Projekt, an dem sich die Zukunft entscheidet.
Diese gleichermaßen ich-bezogene wie altruistisch aufgeladene Attitüde der Betroffenheit ist seit jeher das entscheidende Fundament der Zustimmung zu grüner Politik gewesen. Sie hängt untrennbar mit der Herkunft aus dem multiplen Außenseitermilieu zusammen, aus dem die Partei sich konstituierte, und ist für das Gros ihrer Sympathisanten Kern der Identifikation mit dem Projekt Rot-Grün geblieben. Diese Herkunft wurde in den vier Jahren der Regierungsbeteiligung gründlich verdrängt. So logisch es ist, dass die Teilhabe an der Macht eine im Ursprung herrschaftskritische Partei einer Zerreißprobe unterzieht, so fatal die Tatsache, dass ihre Selbststabilisierung als Regierungspartner weitestgehend darüber gelang, sich von den Elementen zu reinigen, die an dieses Erbe erinnern.
Die Gleichgültigkeit, mit der die grüne Basis in die Niederlage taumelt, hängt mit dieser Ursprungsvergessenheit zusammen: Man weiß nicht mehr, wer man eigentlich ist. Die Eroberung der Macht hat polarisierend gewirkt – nach innen: Die Grünen haben sich de facto in eine Partei der Außenseiter und eine der Aufsteiger gespalten, deren politische Impulse sich nun wechselseitig blockieren.
Die bei dieser Wahl erfahrbare Pointe wird sein, dass das Konzept der Neuen Mitte, mit dem angeblich 1998 die Ablösung der Kohl-Regierung gelang, der eigentliche Grund der rot-grünen Niederlage ist. Denn sie ist das logische Gegenkonzept zur Gesellschaft der Außenseiter. Im Gegensatz zu ihr gewinnt sie ihre politische Energie aus der Logik des Erhalts von Besitzständen und der Abspaltung der Ränder. Dies aber beherrschen die Konservativen traditionell besser.
Für die SPD war das Volksparteikonzept, dessen letzte Konsequenz die neue Mittigkeit ist, tatsächlich alternativlos. Für den kleineren Partner ist die Rolle, sich als Mehrheitsbeschaffer in diesem Konzept einzurichten, jedoch schlicht tödlich. Mit ihrem Marsch in die Mitte entzieht sich die grüne Partei die entscheidenden Energien, von denen ihr Projekt immer noch lebt. Sie hat ihre Chance in der psychologischen Imago als Außenseiterpartei mit einem fundamentalen Anliegen – nicht als Aufsteigerpartei. Dieser Platz ist durch die FDP glaubwürdiger besetzt.
Mit dem Bekenntnis zur Mitte, auf die letztlich alle Parteien außer der PDS schielen, entfällt noch die letzte Möglichkeit, eine Polarisierung zu schaffen, mit der sich politische Affekte freisetzen und Alternativen polemisch benennen lassen. Nichts beweist das besser als die Graffiti, die traditionell wie enthüllend-witzig die Aussagen der plakatierten Politspitzen konterkarieren. Das früher den Führungsköpfen der Rechtspolitiker als Memento zugefügte Hitlerbärtchen ziert in der Gesellschaft der Neuen Mitte den Unionskandidaten ebenso wie den Außenminister.
Die stillschweigende Aufgabe des alten Rechts-links-Schemas im rot-grünen Wahlkampf ist letztes Eingeständnis der Alternativlosigkeit. Den Versuchen, es neu zu beleben, fehlt jegliche Glaubwürdigkeit.
Nein, Rot-Grün hat es nicht verstanden, sein Projekt als maßgebende Alternative zu zeichnen und so darzustellen, dass es ein neues 1972 geben könnte. Der wahlentscheidende Faktor X, die Relation von Angst und Hoffnung angesichts möglicher Veränderungen, wird morgen nicht auf ihrer Seite sein.
Was 1972 das sozialliberale Experiment rettete – die Angst seiner Anhänger vor einem Rückfall in eine vormoderne Republik –, wird sich diesmal als schwächer erweisen als die älteste Angst der Deutschen: die vor dem wirtschaftlichen Niedergang. Aus dieser Furcht schöpft traditionell konservative Politik ihre Kraft. Verspätet macht sich nun bemerkbar, dass 1998 doch mehr eine Abwahl war als eine von starken politischen Hoffnungen getragene Richtungsentscheidung.
Sonntag, ab 18 Uhr, werden wir den Sieg der Alten Mitte über die Neue Mitte erleben. Und den der traditionellen Aufsteiger über die neuen Außenseiter.
CHRISTIAN SCHNEIDER, 51, Forschungsanalytiker am Sigmund-Freud-Institut, lebt in Frankfurt am Main. Im Herbst erscheint von ihm und Annette Simon, Heinz Steinert sowie Cordelia Stilke: „Identität und Macht. Das Ende der Dissidenz“, Psychosozial, Gießen 2002, 200 Seiten 24,90 Euro
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