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„Ich werde schon nicht Letzter sein“

Für irgendeinen ist der Berlin-Marathon immer der erste Lauf: Das heißt Bekanntschaft mit Speziallaufsocken, abgeklebten Brustwarzen, Dixi-Klos und dem „Mann mit dem Hammer“. Und am Ende: 4 Stunden weniger 15 Sekunden. Ein Selbstversuch

von JOCHEN SCHMIDT

So ein bisschen träumt man ja bei jedem Wettbewerb vom Sieg, auch wenn man zugeben muss, dass er beim Marathon vollkommen unwahrscheinlich ist. Denn bei den Profis würde ich nicht mal den Frauen folgen können, und seien es 1.000 Meter. Meine Angst war ja auch vor allem, es nicht zu schaffen und in kurzen Hosen und kreidebleich irgendwo im Grunewald auf die S-Bahn zu warten, zu schwach, mir die peinliche Startnummer von der Brust zu reißen. Es geht aber beim Marathon gar nicht um den Wettbewerb, sondern um die monatelange Vorbereitung. Die unfreiwillige Sexabstinenz bekommt endlich einen höheren Zweck, nächtelanges Herumrechnen an Zwischenzeitentabellen ersetzt lästiges Nachdenken über wichtigere Dinge, das Herumstreunen in Sportabteilungen ist ein erster Schritt aus der Einsamkeit. Bis man auch die Speziallaufsocken genommen hat, ohne die es angeblich früher nicht ging. Und Freunde findet man auch, im Internetforum auf www.berlin-marathon.de. Sie diskutieren über mysteriöse Schienbeinreizungen, Vaseline im Schritt, Insertionstendinopathien und abgeklebte Brustwarzen, denn die Brustwarzen sind die Achillessehne des Läufers.

Am Tag davor gehe ich zur Marathon-Messe am Funkturm. Schon aus der U-Bahn steigen sie in Massen aus, mit Turnschuhen, bunten Leggings und Einkaufstüten. Pärchen immer mit der gleichen Ausrüstermarke. Auf dem Messegelände dann 30.000 Asketen, die erstaunlicherweise dasselbe ungesunde Bild abgeben wie die Kunden in Biomärkten: ausgemergelte, seltsam müde Gesichter, dieser durch die Turnschuhe bedingte federnde, aber deshalb nicht unbedingt elegante Gang. Die Mehrheit eher um die 50, schöne Mädchen nur unter den Verkäuferinnen. Man stürzt sich auf die Angebote und arbeitet sich zur Startnummernausgabe durch. Die Körperfettmessung ergibt: „Ehrgeizig, aber leicht genusssüchtig“, Frechheit! Noch einen Spezialriegel fürs Frühstück und dann zurück ins Bett, Langeweile soll das beste Training sein.

Am Abend bilde ich mir noch eine Erkältung ein und schlafe sehr unruhig. Im Kopf gehe ich immer wieder die Schritte durch, es sind nur so viele, circa 80.000. Am nächsten Morgen das unangenehme Gefühl, zur Arbeit zu gehen. Auf dem Energieriegel zum Frühstück muss man lange herumkauen. Leider wie befürchtet kein Stuhlgang. Der lässt einen immer im Stich, wenn es darauf ankommt. Schreckensvision: bei Kilometer 20 und anvisierter Bestzeit anstehen am Dixi-Klo!

Auf dem Weg zur U-Bahn sonntagmorgens um acht schon nur noch Marathonläufer. Man erkennt sich an den albernen Trainingsanzügen und der zur Schau getragenen Gleichgültigkeit. Einer hat sich sein Powergel in die Schürsenkel eingefädelt, gute Idee. Am Ernst-Reuter-Platz suche ich den Lkw mit meiner Startnummer und gebe meine Kleidung ab. Es sind 8 Grad und ich stehe hier praktisch in Unterwäsche. Auf dem Dixi-Klo merke ich mir fürs nächste Jahr: Klopapier! Ich versuche mich warm zu machen, auch wenn mir das hier vor allen Leuten peinlich ist. Dann stelle ich mich hinten bei den Läufern an. Bei über 32.000 Teilnehmern werde ich schon nicht Letzter werden.

Der Startschuss, und es gibt kein Zurück mehr. Es geht gemütlich los, mal wieder das Gefühl, so tagelang laufen zu können. Aber immer in der Angst vor dem „Mann mit dem Hammer“, über den ich so viel gelesen habe, und der bei Kilometer 35 auf einen warten soll. Nur Essen und Trinken unterwegs soll helfen. Die anderen tragen abenteuerliche Wasserflaschengürtel mit einem halben Dutzend verschiedenfarbigen Konzentraten. Andere sehen nicht so aus, als würden sie zu Hause überhaupt die Treppe hochkommen. Die Ersten lassen sich schon behandeln.

Bis Kilometer 10 trotte ich so mit, dann wird es mir zu langsam und es beginnt ein 30 Kilometer langer Slalomlauf. Denn die Masse löst sich zu keinem Moment des Rennens auf, es kommen sogar noch die früher gestarteten Walker-Gruppen dazu, denen man in die Hacken läuft. An den Verpflegungspunkten geht es drunter und drüber. Manche tauchen ihre voll geschwitzten Schwämme ins Trinkwasser, andere bleiben davor stehen und übergeben sich. Ich nehme jede angegrapschte Banane mit und trinke so viel wie lange nicht mehr. Die Zuschauer feuern uns mit Rasseln an: „Ihr seid alle Sieger!“ Wann werden aus den Rasseln Morgensterne? Eine Zeit unter vier Stunden ist drin, also gebe ich alles. Auf dem Ku’damm sprinte ich dem Ziel entgegen, immer noch im Slalom. Dann ist es geschafft, 4 Stunden weniger 15 Sekunden. Im Ziel fast geweint, weil mir plötzlich klar wird, was ich geleistet habe und dass es niemanden sonst interessiert.

Ich kann mich nicht mehr nach dem Zeitchip an meinen Schuhen bücken. Zu Hause geht es die Treppe nur noch rückwärts hoch. Aber im Kopf werden schon Pläne für die nächsten Läufe geschmiedet. In Zukunft wird die Welt nur noch nach Marathons bereist: New York, Sydney, Patagonien. Und die Bieler Laufwochen locken mit einem 100-Kilometer-Lauf.

Jochen Schmidt, 32, ist ein Schriftsteller ohne Schreibhemmungen. Der Autor von „Triumphgemüse“ und „Müller haut uns raus“ (Beck-Verlag) schreibt wöchentlich für die Berliner Lesebühne „Chaussee der Enthusiasten“. Auch nach 42,195 Kilometern hat er sich sofort wieder ans Tippen gemacht.

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