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„Hub und Schub“ für die Volkswirtschaft

Umherschweifende Sozialrebellen: Wie der Richter Borchert und der Politologe Grottian den Wohlfahrtsstaat retten

BERLIN taz ■ Hartz-Konzept hin oder her – die wirklichen Probleme des deutschen Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme packt auch Rot-Grün nicht an. Mit dieser Machete schlugen gestern zwei Sozialwissenschaftler eine imaginäre Bresche in den sozialpolitischen Dschungel der Koalitionsverhandlungen. Imaginär, weil der Politologe Peter Grottian und der Sozialrichter Jürgen Borchert zwei Robin Hoods des Gemeinwohls sind: Sie klagen ein, was Interessen- und Machtgruppen regelmäßig blockieren.

Die Probleme sind bekannt: öffentliche Armut, unterfinanzierte Sozialsysteme, zu hohe Arbeitslosigkeit. Borchert nun fordert, statt der „kosmetischen Operationen“ der rot-grünen Regierung das Steuersystem umzugewichten als auch die Sozialversicherungen rundzuerneuern. Ihm kommt es dabei auf die Verteilungswirkung an. Das Steueraufkommen etwa werde, das zeigen seine Zahlen, seit Jahrzehnten zunehmend durch die Lohnsteuer, die Steuer des kleinen Arbeitnehmers, finanziert. Der Anteil der Steuern der „Reichen“ am Gesamtsteueraufkommen, also Einkommen-, Gewerbe- und Vermögensteuer, dagegen sinke kontinuierlich – seit 1960. Eine Umverteilung „von unten nach oben“.

Die am stärksten steigenden Abgaben der letzten Jahrzehnte sind die Sozialabgaben – und auch diese Versicherungsbeiträge werden in ihrem Löwenanteil von den abhängig Beschäftigten und deren Arbeitgebern bezahlt. Die Folge sind hohe Lohnnebenkosten. Borchert kennt auch hier eine Lösung: Würde man die Beamten und Selbstständigen in das System miteinbeziehen, wie es etwa die Schweiz macht, hätte man dessen Kassen saniert. Die „absurde Verzerrung der Einkommensverteilung“, so Borchert und Grottian, „blockiert den Hub und Schub der Volkswirtschaft.“ Singles und Rentner hätten zu viel, die Familien zu wenig Geld. Darin sehen Grottian und Borchert „die wesentliche Ursache beim Einbruch des Konsums“ und den hausgemachten Teil der Wirtschaftskrise in Deutschland. Die Grundbedingungen, die einst für das Wirtschaftswunder sorgten, seien „fundamental ins Gegenteil verkehrt“ worden, sagt Borchert, der Lobbyist der guten Reform. Was die echten Lobbyisten wohl davon halten? HEIDE OESTREICH

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