: Verdächtiges Pathos
DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER
„Entweder ist man konsequent oder inkonsequent, aber dieses ewige Hin und Her macht mich nervös.“ Leser Helmut Patt am 16. 9. im „Spiegel“
Herr, es ist Zeit. Der Wahlkampfsommer war sehr groß, jetzt aber reicht’s; ran an die Wahlurnen! Man kann die Wähler nur dazu beglückwünschen, dass sie die Demoskopen an der Nase herumgeführt und gestern Stoiber, heute Schröder in die Poleposition gehievt haben. Kreative Unentschlossenheit ist seit einiger Zeit das zuverlässigste und womöglich wertvollste Potenzial unserer Demokratie. Sie ist die listige Antwort des Souveräns, der erkannt hat, dass er der von ihm eingesetzten Legislative nicht trauen kann, von der Exekutive ganz zu schweigen. Das Volk räumt die Stammtische, auf die sich die Politiker so gern stützen, einfach ab oder es baut neue auf – schneller, als es die Parteistrategen begreifen. Wenn Regierende und Oppositionelle gleichermaßen unglaubwürdig geworden sind – warum sollte dann auf die Regierten noch Verlass sein? Warum sollten sie sich wie ehedem treuherzig zu parteipolitischen „Lagern“ oder Klumpen vom „Stammwählern“ zusammenballen, auf dass die Hochrechnungen am Wahltag aufgehen? Der „Wechselwähler“, produktiv-labil, ist der neue Arbeitgeber der Politik. Emnid, Allensbach und die anderen werden sich am Sonntag ebenso die Augen reiben wie der jeweilige Sieger und Verlierer – und wie die Wähler selbst, die vermutlich am meisten darüber staunen werden, was sie wieder einmal angerichtet haben.
Wird kreative Unentschlossenheit zur politischen Waffe des Souveräns, müssen sich die Politiker darauf vorbereiten, va banque zu spielen. Den Karten, die sie aus dem Ärmel schütteln, können sie so wenig Vertrauen schenken wie die Wähler dem Parteiprogramm. Schröder hatte, wie es derzeit aussieht, mit seiner Antikriegskarte einfach ein unverschämtes Glück, das Stoiber nun mit der Zuwanderungskarte zu übertrumpfen sucht. Es könnte sich herausstellen, dass er sie zu spät gezogen hat – oder dass es besser gewesen wäre, sie im Ärmel zu lassen. Der Kandidat weiß so wenig wie der Kanzler, was das Volk „wirklich denkt“ – wie sollten sie auch, seitdem das Volk angesichts ihrer Taten und Versäumnisse selbst nicht mehr weiß, was es denken soll.
Schröders Positionswechsel von „uneingeschränkter Solidarität“ mit den USA zur bedingungslosen Kriegsdienstverweigerung im Fall Irak war wahltaktisch kühn, moralisch nicht ohne Dreistigkeit und, zumindest in den Umfragen, von Erfolg gekrönt. Sie hat ihm die Sympathien aller unbedingten Pazifisten eingetragen; ferner derjenigen, die moralische Unbekümmertheit in Kauf nehmen, wenn die Richtung stimmt, und schließlich aller derjenigen, die von Solidarität mit der Weltmacht ohnehin nichts halten. Doch alle Sympathiespender müssten sich – jenseits von Moral und Taktik – fragen, was eigentlich in den Politiker Schröder gefahren war, als er Anfang August die SPD flugs zur Antikriegspartei umbaute und selbst zum radikalen Pazifisten mutierte. Unwahrscheinlich, dass er vom Wunsch getrieben war, die Sozialdemokraten von ihrem historischen Trauma, der Bewilligung der Kriegskredite für Kaiser Wilhelm, zu kurieren – zumal jüngere Wunden, Kosovo und Afghanistan, noch offen sind.
„Unter meiner Führung werden sich deutsche Truppen nicht an einem Kriegseinsatz gegen den Irak beteiligen“ – diesen Satz wiederholte er so oft und mit einem so verdächtigen Pathos, dass eine andere historische Assoziation fast unvermeidlich war: Jene Rede von der Hand, die verdorren möge, wenn sie in Deutschland jemals wieder zu einer Waffe greifen sollte. Ein biblisch-metaphorisch aufgeladener Satz, den mit der ihm geläufigen rhetorischen Wucht der junge Franz Josef Strauß in den frühen Nachkriegsjahren sprach. Es gibt allerdings einen wesentlichen Unterschied: Straußens Pathos war damals echt und entsprang unmittelbarer Erfahrung. Dass der Mann wenig später, als Verteidigungsminister, für deutsche Atomwaffen agitierte, steht auf einem anderen Blatt und hat sicher viel mit Machiavellismus, nichts aber mit chamäleontischer Geschmeidigkeit zu tun.
In dieser übt sich derzeit unser Kanzler, aber die Geschmeidigkeit will ihm nicht gelingen; sein Pathos wirkt starr, und die Zwickmühle, in die er sich im Fall eines Wahlsiegs manövrieren könnte, ist vorauszusehen. Schon pfeifen es die Spatzen von Washingtons Dächern, dass die Amerikaner an einer aktiven deutschen Beteiligung gar nicht interessiert sind. Ein wiedergewählter Kanzler Schröder muss also gar nicht umfallen, er hat ja nichts als die lautere Wahrheit gesagt – und sitzt dennoch schon jetzt in der Tinte. Denn nach dem kleinen Einmaleins, nach dem in der Europäischen Union – und in den Vereinigten Staaten erst recht – heutzutage Politik gestrickt wird, hat Schröder Saddam Hussein gestärkt und der UNO eine Schlappe beigebracht.
In der Irakfrage sind, solange Politik im Denkhorizont der EU und nach den Vorgaben der US-amerikanischen Administration gemacht wird, zwei Positionen möglich. Die erste Position vertritt Tony Blair: bedingungslose Vasallentreue, bis Bagdad am Boden liegt. Die zweite Position wird unter anderem von der CDU/CSU vertreten: Krieg gegen den Irak, wenn es den USA gelingt, die UNO ihren Zielen vorzuspannen. Eine dritte Position hat der amtierende Kanzler erfunden: Ohne mich, weil ich sowieso nicht gefragt werde, im Wahlkampf aber als Kriegsgegner heftig Reklame machen kann.
Eine vierte Antwort wäre denkbar, sie liegt jedoch nicht im Rahmen dieses kleinen Einmaleins. Sie bestünde im ernsthaften Bemühen, den amerikanischen Verbündeten von seinem zerstörerischen Vorhaben abzubringen. Sie würde, in uneingeschränkter Solidarität mit der amerikanischen Bevölkerung, dieser erläutern, dass sie sich einem rabiaten, machtarroganten und politisch blinden Kraftmeier als Präsidenten anvertraut hat, der spätestens seit dem 11. September 2001 einen für den Weltfrieden gefährlichen Sonderweg beschritten hat. Sie würde darlegen, dass die Missachtung internationaler Abkommen und Verträge, die Erpressung der Verbündeten und des UNO- Sicherheitsrats nicht nur dem Kampf gegen den Terrorismus, sondern der Festigung demokratischer Prinzipien in der ganzen Welt schädlich sind. Sie würde darauf bestehen, dass heute keine Macht der Welt mehr ungehindert andere Nationen und Völker nach Belieben schurigeln und mit bombastischen „Drohkulissen“ oder gar Waffengewalt unter ihre Knute zwingen darf.
Diese Antwort wird es nicht geben – zumal im Wahlkampf nicht, in dem es gilt, die kreative Unentschlossenheit des Wählers geschickt zu bedienen, ohne dabei den Rahmen des kleinen politischen Einmaleins zu verlassen. Schröder ist weit gegangen, aber nicht weit genug, um seine Klientel von der Ehrlichkeit seiner Position zu überzeugen. Die Poleposition könnte noch einmal wackeln, wenn sich der Eindruck verstärkt, dass auch Antikriegsgebaren nur zu jenen Optionen gehört, die dazu dienen, im Zwischensprint die Nase vorn zu behalten. Die Verfallszeiten solcher Triumphe sind kürzer geworden.
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