: Außer Gefecht setzen
Nach der Geiselbefreiung von Moskau muss die internationale Gemeinschaft klarstellen, dass jede militärische Nutzung biologischer und chemischer Mittel verboten ist
Ein Krieg ohne Tote ist eine Illusion – auch wenn in Zeiten von CNN und globalem Dorf Luftangriffe „chirurgische Operationen“ heißen, Tote „Kollateralschäden“ genannt werden und chemische Waffen unter dem Rubrum „nichttödlich“ laufen. Seit Jahren wird versucht, mit der ganzen Macht der Sprache das Grauen des Krieges zu übertünchen und die ungehemmt fortschreitende Aufrüstung zu legitimieren. Den humanen Krieg gibt es jedoch ebenso wenig wie chemische Waffen, die nicht töten.
Es sei doch besser, so ein oft angeführtes Argument, den Gegner nur vorübergehend außer Gefecht zu setzen, als ihn zu erschießen. Der Gasangriff von Moskau hat jedoch unmissverständlich klar gemacht, dass jeder Einsatz chemischer Waffen immer auch Todesopfer fordern wird. Fast jede chemische Substanz wirkt tödlich, wenn sie überdosiert wird. Bei einem militärischen Einsatz kommt es zwangsläufig zu einer tödlichen Überdosierung – manchmal nur für einzelne, oft sogar für viele Menschen: Ein Musicaltheater ist eben kein Operationssaal, in dem für einen Patienten die individuell richtige Dosis eines Betäubungsmittels eingesetzt werden kann.
Hinzu kommt im Kampf das Problem: Was passiert mit den bewusstlosen Gegnern, die das Gas nicht umgebracht hat? Noch vor knapp zwei Jahren sinnierte ein hoher amerikanischer Militär auf einer Konferenz über nichttödliche Waffen öffentlich über genau diese Frage. Erschießen war eine seiner Optionen. Daran schließen sich nahtlos Berichte von Augenzeugen in Moskau an, nach denen einige der bewusstlosen Geiselnehmer von den russischen Elitetruppen erschossen wurden.
Das Ende des Moskauer Geiseldramas hat noch eine weitere Tatsache offenbart: Russland unterhält weiterhin ein Chemiewaffenprogramm und verstößt damit gegen das 1997 ratifizierte Chemiewaffen-Übereinkommen (CWÜ). Experten halten es für unvorstellbar, dass die Eliteeinheit aus einer spontanen Eingebung heraus ein medizinisches Präparat von der Stange eingesetzt hat. Die richtige Substanz, die nötige Menge, Gegenmittel und Verfahren zur Ausbringung der Chemikalien – all das muss jahrelang unter militärischen Gesichtspunkten erprobt und entwickelt worden sein.
Doch die Russen sind nicht die Einzigen, die ein verbotenes Chemiewaffenprogramm betreiben. Ende September legte unser „Sunshine Project“ (s. u.) umfangreiche Belege für ein vergleichbares Programm in den USA vor. Das Pentagon untersucht derzeit eine Reihe von betäubenden oder Krämpfe auslösenden Chemikalien auf ihre Waffentauglichkeit und entwickelt parallel Gasgranaten für militärische Einsätze. Illegal sind derartige Programme auch, wenn sie „nichttödliche“ Substanzen betreffen. Das CWÜ kennt bei Kriegseinsätzen keine Unterscheidung in „erlaubte“ und „verbotene“ Substanzen. Grundsätzlich ist jeder Einsatz von chemischen Substanzen als Mittel der Kriegführung verboten. Selbst Tränengas darf im Krieg nicht eingesetzt werden.
Es ist noch keine zehn Jahre her, dass die Staaten dieser Welt sich zu einem grundsätzlichen Verbot von chemischen Waffen durchgerungen haben. Doch heute weckt die rasant fortschreitende Entwicklung in Biomedizin und Gentechnologie neue Begehrlichkeiten bei Militärs in Ost und West. Die Überwindung technischer Grenzen eröffnet eine Reihe von neuartigen Waffensystemen, die bislang gar nicht denkbar waren. Das gilt auch für die biologischen Waffen. Pilze zur Zerstörung von Drogenpflanzen wie Mohn und gentechnisch veränderte Mikroorganismen zur Materialzerstörung befinden sich bereits im fortgeschrittenen Entwicklungsstadium.
Während noch vor wenigen Jahren das grundsätzliche Verbot von chemischen und biologischen Waffen allgemein anerkannt war, definieren die USA und Russland heute immer neue Schlupflöcher in den Abkommen und rechtfertigen die neuen Waffen mit kreativen Auslegungen des internationalen Völkerrechts. Im Ergebnis beobachten wir eine gefährliche Erosion des Chemie- und Biowaffenverbots. Damit provozieren die Protagonisten eine äußerst gefährliche Entwicklung, die sehr schnell in einem neuen biologischen und chemischen Wettrüsten enden kann.
Denn die Entwicklung der „nichttödlichen“ Waffen kann leicht für die Verschleierung von tödlichen Waffenprogrammen benutzt werden. Trägersysteme mit großen Reichweiten könnten problemlos auch für biologische Waffen oder andere Chemikalien wie die tödlichen Nervengase verwendet werden. Design und Entwicklung neuer Ausbreitungssysteme, der Aufbau von Produktionskapazitäten oder auch die Tests zum Ausbringen der Substanzen – alles zentrale Elemente für die Entwicklung auch von tödlichen Waffen – könnten künftig problemlos durchgeführt werden, wenn sie mit dem Label „nichttödlich“ versehen werden.
Mit welchem Argument kann denn noch der Aufbau von biologischen und chemischen Waffenprogrammen in anderen Staaten verhindert werden, wenn die USA und Russland mit schlechtem Beispiel vorangehen? Wer kann in künftigen Kriegen noch unterscheiden, ob tödliche oder „nichttödliche“ Waffen eingesetzt wurden, wenn plötzlich eine ganze Streitmacht bewusstlos zusammensackt? Hier verbirgt sich eine enorme Eskalationsgefahr, die schnell in einen umfassenden chemischen Krieg ausufern kann.
Die Welt steht heute am Scheideweg. Wenn sie die militärische Nutzung der neuen biomedizinischen Entwicklungen zulässt, werden wir in einigen Jahren oder Jahrzehnten weltweit mit einem umfangreichen Arsenal an biologischen und chemischen Waffen konfrontiert sein. Um zu verhindern, dass Chemie- und Biowaffen-Übereinkommen zum zahnlosen Tiger verkommen, müssen diese Abkommen jetzt unverzüglich gestärkt werden.
In einer Woche beginnt in Genf die Überprüfungskonferenz der Biowaffen-Konvention, ein halbes Jahr später steht die Überprüfung der C-Waffen-Konvention auf der Tagesordnung. Dort müssen die Vertragsstaaten unmissverständlich klarstellen, dass jegliche militärische Nutzung biologischer und chemischer Mittel grundsätzlich und ohne jede Ausnahme verboten ist. Wenn die amerikanischen und russischen Programme nicht gestoppt werden, kann das den Anfang vom Ende der beiden Übereinkommen bedeuten – zynischerweise noch bevor die chemischen Arsenale des Kalten Krieges überhaupt zerstört wurden.
Es wird nicht zuletzt an der deutschen und an anderen europäischen Regierungen liegen, ob die internationalen Abkommen aktive, starke Instrumente der Rüstungskontrolle bleiben. Ihnen kommt die zentrale Rolle zu, den Nato-Verbündeten USA zur Räson zu bringen. Wer jetzt schweigt, macht sich mitschuldig an einer Entwicklung, deren fatale Folgen wir heute nur erahnen können. JAN VAN AKEN
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