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Peu à peu fällt die erste Platte

„Entsorgung Ost“ jetzt auch in Berlin: Heute endet, mit Abrissbeginn der beiden ersten Plattenhochhäuser in Marzahn, der Traum vom „Sonderfall Berlin“. Langfristige Strategien gegen Leerstand und Abwanderung sowie zur Reurbanisierung gefragt

„Planvollen Rückbau von außen nach innen betreiben“

von ROLF LAUTENSCHLÄGER

Es wird kein medienwirksamer „Abriss von Marzahn“. Es fliegt kein Beton in die Luft. Und von einer Vertreibung der Mieter kann ebenfalls nicht die Rede sein. Beinahe erinnert der Beginn für den Abriss des ersten Plattenhochhauses in Marzahn am heutigen Montag an einen unspektakulären Akt: Zum Wochenanfang wird der Bauzaun um die beiden Doppeltürme in der Marchwitzastraße 1–3 gezogen. Danach wird das Gebäude in Innern entkernt. Nach Auskunft von Hartmut Meuter, Chef der Wohnungsbaugesellschaft Marzahn (WBG), werden im Januar 2003 die Decken und Fassaden des 300 Wohnungen fassenden 21-Geschossers abgetragen. Peu à peu fällt sozusagen die Platte, die mitten in dem Wohnquartier nicht gesprengt werden kann. An ihrer Stelle soll eine Grün- und Freizeitanlage entstehen, über deren Gestaltung sich der Bezirk mit den Anwohnern seit Monaten berät.

Dennoch zeigt der über eine Million Euro teure Abriss in Marzahn, der zu großen Teilen aus dem Bundesprogramm „Stadtumbau Ost“ finanziert wird, dass auch Berlin von der Entwicklung anderer Städte – zumeist in Ostdeutschland – eingeholt wurde: Dem Versuch, die Siedlungen an der Peripherie mit Milliardenaufwand zu sanieren, um die Bevölkerung zu halten, folgte trotzdem ein Leerstand von Plattenbauten. 25 Jahre nach ihrer Entstehung kommt die unrentable Bausubstanz auf den Index oder zwingt zu neuen Konzepten des Stadtumbaus. Die einst von SPD-Chef und Bausenator Peter Strieder proklamierte städtebauliche Prämisse – Erhalt statt Abriss – ist nicht mehr haltbar.

In Marzahn-Hellersdorf, der mit 100.000 Wohnungen größten Plattensiedlung Europas, stehen über 10.000 Wohnungen leer. Der Abriss des Doppelhochhauses an der Marchwitzastraße bildet darum erst den Beginn eines 30 Millionen Mark aufwendigen „Rückbauprogramms“, das die Wohnungsbaugesellschaft gemeinsam mit dem Land in den nächsten Jahren unternehmen will. Zwei weiteren Hochbauten an der Niemegker- und Oberweißbacher Straße blüht die Abrissbirne. Rund 1.700 Wohnungen in Marzahn-Nord sollen weichen. Zugleich gibt es Pläne in Marzahn, Gebäude etagenweise zu reduzieren, Dachgärten und Maisonettewohnungen zu gestalten. Ob das hilft, die weitere Abwanderung von Teilen der Bevölkerung zu stoppen und das soziale Gleichgewicht zu stabilisieren, ist offen.

Dass Marzahn-Hellersdorf in sozialer und ökonomischer Hinsicht im Verhältnis zu anderen Plattenwüsten des Ostens keine Ausnahme bleiben wird, hat der Stadtsoziologe an der Humboldt-Uni, Hartmut Häußermann, immer wieder betont. Hier wie dort zögen die finanziell gut sortierten Bewohner ins Umland oder in die Innenstadt, zurück blieben Alte oder sozial Schwache, so seine Sorge. Richtig ist, dass die sozialistischen Plattensiedlungen Berlins sich viel länger als andere diesem Trend verweigert haben – wegen einer homogenen Bevölkerungsstruktur und den hohen baulichen Investitionen von Land und Bund. Richtig ist auch, dass Berlin viel zu spät und vorausschauend der Gegenentwicklung seit dem zweiten Drittel der 90er-Jahre Rechnung getragen und begonnen hat, das Thema Schrumpfung und Rückbau zu thematisieren.

„Der Ansatz, die Innenstädte zu revitalisieren und einen planvollen Rückbau von außen nach innen zu betreiben, ist nicht nur unverändert richtig, sondern gewinnt zusätzliche Aktualität“, erinnerte Michael Krautzberger, Leiter der Abteilung Bauwesen und Städtebau im Bundesbauministerium, im November in einer Nachbetrachtung zum „Wettbewerb Stadtumbau Ost“. Die Städte, Kommunen, Wohnungsbaugesellschaften und Planer müssten sich dringend mit neuen Konzepten des Rückbaus befassen, um „Fehlentwicklungen“ – wie Stadtflucht – zu verhindern.

Berlin reißt erst mal ab. Doch im Unterschied etwa zu Cottbus-Sachsendorf-Malchow (wo in einem Modellversuch die abgetragenen Plattensegmente der oberen Hochhausgeschosse „nachhaltig“ zur Errichtung von neuen, kleinteiligeren Wohngebäuden verwandt werden) oder Halle/Leipzig fällt die Fantasiebilanz der Hauptstadt (siehe Planwerk für reiche Urbaniten) mager aus, dem Gros der umzugswilligen Plattenbaubewohner die Stadt auch zukünftig schmackhaft zu machen. Angesichts der steigenden Abwanderungs- und Leerstandsquoten in Halle-Neustadt haben die Städte Halle und Leipzig sich verabredet, den Bewohnern Alternativen aufzuzeigen: Mit Workshops, Architektengesprächen, Beratungsrunden und Busfahrten durch die Innenstädte werden diese den jetzigen Platten- und kommenden Stadtbürgern nahe gebracht. Es ist das Bekenntnis zur Stadt.

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