: Eingefrorene Gefühle
Muss die Geschichte der Grunge-Musik umgeschrieben werden? Nein, aber die Tagebücher von Kurt Cobain korrigieren den Mythos, der sich um den Selbstmord des einstigen Nirvana-Sängers rankt
von KERSTIN GRETHER
„Auf den Stationen der psychiatrischen Klinken finden wir keine Kinos, keine Buch- und Schallplattenläden. Das Publikum für verrückte Kunst setzt sich größtenteils nicht aus Verrückten zusammen“, schreibt die Kulturkritikerin Elizabeth Wurtzel, auch sie ein Nirvana-Fan, in ihrem Buch „Bitch – ein Loblied auf gefährliche Frauen“. „Die Welt ist offensichtlich voll von völlig normalen Menschen, die auf anderer Leute Schmerz stehen.“
Auf anderer Leute Schmerz stehen: Solcherart Vampirismus witterten auch die Fans von Kurt Cobain, deswegen wüteten sie schon lange im Vorfeld im Internet gegen die Veröffentlichung der Tagebücher ihres Idols. Getrieben vom Hass auf Cobains angeblich so „raffgierige“ Witwe Courtney Love, der nicht wenige die Schuld an seinem Tod geben, verteidigten sie Cobains Recht auf Intimsphäre, auch posthum. Japanische Nirvana-Fans wollten gar die Auslieferung des Buchs verhindern. Denn es müsse ja nicht sein, dass seine Erbin auch daran noch verdiene.
Dabei hatte Love vorab bereits erklärt, dass sie allzu intime Aufzeichnungen ihres verstorbenen Gatten ohnehin nicht freigeben werde, selbstverständlich nicht. Aber was die Rockmusikerin und Schauspielerin Courtney Love sagt und denkt, hat die Hardliner-Fraktion der Nirvana-Fans noch nie sonderlich beeindruckt. Welcher Mythos funktioniert schon ohne Sündenbock?
Come as you are
Nun sind sie also da, die Tagebücher. Und sind sie wirklich so düster wie erwartet? Eher nicht. Stellenweise verbreiten sie sogar eine ansteckend gute Laune, denn sie haben etwas von einem situationistischen Manifest und sprühen nur so vor künstlerischer wie auch politischer Energie. Da leuchtet es ein, dass man Dokumente dieser Art der Welt nun auch nicht vorenthalten darf. Die Tagebuchnotizen zeigen Cobain als provokanten High-School-Drop-Out, den man nie ohne Stift oder Gitarre antraf, der ständig irgendeinen Aufstand gegen das System anzetteln wollte, der zwischendurch auch mal kriminell oder traurig wurde und dabei stetig die Karriere seiner Band Nirvana vorantrieb. Und als beneidenswerten Künstler auch, der scheinbar immer neue Ventile für seine radikalen Stimmungen und Gedanken fand. Trotz seiner revolutionären Auffassung von Wirklichkeit und Kunst gingen ihm dabei selten die Selbstdistanz oder der Humor verloren. Ja, es liest sich wie Grunge, wie diese von ihm mitgeprägte Stilrichtung, die ja auch oft zwischen Wutausbrüchen und Melancholie schwankte. Cobain ist der bohemienhafte Underdog, der felsenfest daran glaubt, dass er’s schon schaffen wird: die Welt zu ändern und dabei ihren Safe zu knacken.
Die Tagebücher vereinen viel Geschriebenes, das schon damals für andere gedacht war: Briefe an Musikerfreunde („Hallo, ich bin’s, um zu sagen: so weit alles verregnet, öde und okay.“), Bandmitglieder („Dave, eine Band muss proben, nach unserer Ansicht mindestens fünfmal pro Woche, wenn sie etwas erreichen will.“), selbst verfasste Promozettel, in denen er den Namen seiner Combo situationistisch platzierte: „NIRVANA erkennt, dass die Underground-Musik-Seen zunehmend träger und für die kommerziellen Interessen der Major-Labels empfänglicher wird. Verspürt NIRVANA die moralische Pflicht, etwas gegen dieses Krebsgeschwür zu unternehmen? Auf keinen Fall! Wir wollen mit abkassieren.“ Zeichnungen (z. B. das Iron-Maiden-Monster), Comics, die von einer jungsuntypischen Ablehnung alles Männlichen getrieben sind, Set-Lists, kommentierte Songtexte etc. Sogar eine selbst verfasste Review zu einem fiktiven Nirvana-Gig ist dabei: „ … dann rammte Kurdt aus Protest seinen eigenen Kopf gegen die Wand … dann nahm Kurdt seine Gitarre und schlug sie Chris auf den Mund, wodurch dessen Lippe aufplatzte.“ Hin und wieder findet sich auch mal ein Gedicht unter den Aufzeichnungen oder detaillierte Schilderungen einer geplanten Punk-Rock-Oper; da wundert man sich über die sehr anschauliche und dennoch dichte Form. Und es liest sich auch einfach schön, wie er schreibt: „Ich spiele gerne meine Karten falsch aus.“
In einem Eintrag, der streckenweise sehr poetisch ist: „ … Ich schreibe gerne Gedichte. Ich ignoriere gerne die Gedichte anderer. Ich mag Vinyl. Ich mag die Natur und Tiere. Ich schwimme gerne. Ich bin gern mit meinen Freunden zusammen. Ich bin gerne für mich allein. Ich fühle mich gerne schuldig dafür, ein weißer amerikanischer Mann zu sein. Ich schlafe gern. Ich stopfe mir gern den Mund mit Körnern, um sie beim Spazierengehen irgendwo in die Gegend zu spucken. Ich necke gerne kleine, bellende Hunde in geparkten Autos …“ (Die stilsichere Übersetzung der deutschen Herausgeber Clara Drechsler und Harald Hellmann tut ihr Übriges dazu, diese Sätze in ihrer Authentizität zu erhalten.)
About A Girl
Cobain schien sich wirklich schuldig gefühlt zu haben, ein weißer amerikanischer Mann zu sein. Darüber und über seine Wortwahl dürften sich seine jugendlichen Fans von heute wundern – in der neuen Bravo ist ihm schon wieder ein Poster gewidmet. Doch Cobain war auch ein Kind der frühen Neunziger, beeinflusst vom Minoritäten-Diskurs der amerikanischen Political-Correctness-Bewegung. Besonders deren feministische Punkrock-Version davon hatte es ihm angetan. Zum Aufstand gegen das Establishment verbündete er sich nacheinander mit den Riot-Girl-Erfinderinnen Tobi Vail, Kathleen Hanna und Courtney Love. In einem Brief an die Geliebte Tobi Vail (Macherin des ersten Riot-Grrrl-Style-Fanzines) klingt das so: „Wir können in der Maske des Feindes die Mechanismen des Systems infiltrieren, um es von innen heraus zu zersetzen. Gerade genug Kompromisse machen, um sie bloßzustellen, und die haarigen, verschwitzten, sexistischen Macho-Schwanzgesichter werden bald in einem Meer von Rasierklingen und Samenflüssigkeit ersaufen, das der Aufstand ihrer Kinder mit sich bringt.“
Der Kampf gegen Sexismus, das wird immer wieder klar, war für den Held mindestens zweier Generationen eine Herzensangelegenheit. Umso ironischer mutet es an, dass manche in ihm nur noch das arme Opfer sehen mögen, das auf eine böse Frau reingefallen ist. Dabei war ihm Hole-Sängerin Courtney Love, mit ihrer drastischen Kindheit und ihrem Talent, wahrscheinlich ähnlicher als die meisten seiner Fans, die in den Pathos flüchten, wenn sie die Symbiose zu einem „tragischen Genie“ suchen. Oder um es mit Elizabeth Wurtzel – übrigens eine Autorin der Generation X – zu sagen: „Es ist nicht fair, dass Loves Talent oft von ihrem schlechten Benehmen überschattet wird. Cobain war genauso der böse Junge des Grunge, aber im kollektiven Bewusstsein ist sein Talent viel tiefer verankert als sein Image.“
You know you’re right
Die Tagebücher von Kurt Cobain korrigieren zumindest seinen Mythos: Ja, er war zwar drogenabhängig, genial, zuweilen selbstzerstörerisch – trotzdem hat man nach der Lektüre den Eindruck, dass er sich auch gut um sich selber zu kümmern wusste. Dass er nie, wohl wirklich nie, zur Ruhe kam, lag vielleicht auch an seinem bislang unterbewerteten, chronischen Magenleiden (aber es ist nicht gerade legendenbildend, wenn ein Rockstar kotzt, nur weil er was am Magen hat). Und glaubt man dem vorliegenden Material, so ist er auch nicht am Erfolg zerbrochen. Die Nirvana-Sache schien er bis zuletzt unter Kontrolle gehabt zu haben – jedenfalls so weit, wie man Massenerfolg überhaupt in den Griff bekommen kann. Immerhin aber schrieb er selbst noch die Treatments für die Videos, als Nirvana längst zum Inbegriff einer neuen Jugendrebellion geworden waren und die Hitparaden auf dem ersten Platz enterten.
Auch der Mythos von der bösen Plattenindustrie, an der er zerbrochen sein soll, wird so nicht bedient. Stattdessen spottete der Rockstar über Journalisten, die immer nur auf das eine hinauswollen: „Ein Journalist ist praktisch immer der Gnade seines Chefredakteurs ausgeliefert. Komischerweise sind es die Journalisten, die nachgerade obsessiv zu beweisen versuchen, dass ein Musiker alles von der Plattenfirma vorgeschrieben bekommt.“
All Apologies
Auch hier zeigt sich, dass Cobain im Gegensatz zu vielen anderen seiner Generation kein so „zynischer Untertan“ war. In seinem Tagebuch notierte er: „The revolution will be televised“ – und er sollte Recht behalten. Seine „Revolutionen“ – etwa die wahnwitzigen Nirvana-Videos – wurde ja tatsächlich gesendet, und Cobain glaubte an MTV.
Als er sich im April 1994 das Leben nahm, packte viele die Endstimmung: Man hatte es ja schon immer gewusst. Man kann die Welt nicht verändern.
Und trotz aller Vitalität seiner Notizen: Letzten Endes hat er sich umgebracht, der Sänger mit den großen, starrenden blauen Augen, der immer ein wenig nach Jesus Christus aussah. Denn Veränderungsspirit und Depression müssen sich nicht ausschließen. Oder, um es noch einmal in den Worten von Elizabeth Wurtzel zu sagen: „Depression, die Krankheit des Nicht-Fühlens, äußert sich zunächst in Ausbrüchen, Hysterie, Exzess. In der Krankheit des Zu-viel-Fühlens. Und ich möchte den sehen, der nach einer Weile den Unterschied noch definieren kann.“ Vielleicht ist das der Grund, warum Nirvana-Songs nichts von ihrer Gegenwärtigkeit verloren haben: weil sie die eingefrorenen Gefühle immer noch hörbar machen.
Kurt Cobain: „Die Tagebücher“. Herausgegeben und übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann, 2002 KiWi, 330 S., 19,90 €
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