: Amok. Zeitgeist?
Das Wort heißt auf Malaiisch „Wut“. In der dortigen Kultur bezeichnete es das Phänomen einer mörderischen Raserei. Aber ist das Irrationale so einfach auf Amokläufer im Westen zu übertragen?
von WALTRAUD SCHWAB
Amok. Zeitgeist? – Ein Mann steht auf der oberen Brüstung des eingerüsteten Hauses Luisenstraße 40. Es ist der 18. November, Montagnachmittag. Voll Wut wirft er Gerüstteile von oben auf alles, was sich unten auf der Straße bewegt. Er brüllt: „Ukrainische Botschaft Mafia, russische Botschaft Mafia, bulgarische Botschaft Mafia, Polizei Mafia.“ Er bekreuzigt sich und klettert über das Gerüst. Bauarbeiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite schreien: „Spring doch. Spring. Einer weniger.“ Die Polizei sperrt die Straßen. „Russisch Mafia, Baufirma Mafia, Polizei Mafia.“ Der Mann hängt außen am Gerüst. Er wirft nun nichts mehr hinunter. „Spring!“, brüllen die Bauarbeiter von unten. Der Mann bekreuzigt sich. Einmal. Zweimal. Der Mann springt. Ich sehe ihn fallen. Seine Arme ausgestreckt. Ein Kreuz. Ich höre den Aufschlag auf dem Autodach. Blechern. „Nein, nein, nicht springen!“ Ich bin Augenzeugin dieser Szene. Szene? Augenzeugin? Ja. Wie schon hunderte Male zuvor. Im Film. Im Fernsehen. Ich habe sie fallen sehen. Von Dächern, von Kirchtürmen, von Klippen und aus dem World Trade Center. Nun auch in der Wirklichkeit, an jenem Montag kurz vor 15 Uhr. Aber was ist die Wirklichkeit?
War der Mann ein Amokläufer? Einer, der plötzlich anfängt zu rasen, einer, der Leute angreift, sie tötet und dabei seinen eigenen Tod nicht scheut? Das Szenario spricht dafür, wenngleich er niemanden getroffen hat, wenngleich er schwer verletzt weiterlebt. Im Koma? Später erfahre ich noch seine Herkunft: „Ungeklärt. Illegal.“
Amok werden im Westen nicht die Situationen genannt, für die es keine Erklärung gibt, sondern die, die nicht in die vorhandenen Erklärungsmuster passen. Erfurt soll Amok gewesen sein wie Littleton auch oder Zug in der Schweiz.
Das Wort Amok ist dem Malaiischen entlehnt. Eigentlich heißt es „Wut“. Eigentlich ist es der Ausruf, der die Leute vor einem Amokläufer warnt. In der dortigen Kultur waren plötzliche gewalttätige Attacken auf Unbeteiligte als Phänomen bekannt. „Irgendwie hängt es mit dem Klima zusammen, mit dieser schwülen, geballten Atmosphäre, die auf die Nerven wie ein Gewitter drückt, bis sie einmal losspringen“, erklärt der in den Tropen lebende Amokläufer in Stefan Zweigs gleichnamiger Novelle von 1912. Meist überlebt der Amokläufer die Tat nicht. Überlebt er sie doch, kann er sich an nichts erinnern, wird berichtet.
Aber auch in der deutschen Geschichte hat es Amokläufer gegeben. Der Lehrer Ernst Wagner ist einer von ihnen. Er hat 1913 eines Nachts seine Familie und danach in Mühlhausen an der Enz weitere neun Menschen getötet. Dennoch besteht unter Kriminologen und Psychologen Übereinstimmung, dass es nicht nur in den USA in den letzten Jahren eine Zunahme solcher Gewalttaten, die mitunter leichtfertig als Amok bezeichnet werden, gibt. Oder meinen wir etwa, es geschähe öfter, weil öfters darüber berichtet wird? Denn je mehr eine Geschichte zum Skandal taugt, je mehr sie das Gruseln lehrt, desto höher der Marktwert. Der Sensationsgehalt des rasenden Illegalen in der Luisenstraße tendiert dabei allerdings gegen null. Es ist ja niemand gestorben, als er die Metallteile auf Leute und Autos warf. „Nur Sachschaden“, sagte der Polizeisprecher.
Nach „richtigen“ Amokläufen wie in Erfurt leben die Debatten um die Hintergründe auf. Allerhand Parameter werden angeführt: Fast immer sind die Amokläufer männlich, meist sind sie jung, meist haben sie Demütigung erlebt, Degradierungen, Versagen. Fast immer sind es Einzelgänger. Immer haben sie Zugang zu Waffen und oft eine problematische Mutterbindung. Mitunter kündigen sie ihre Tat an oder verfertigen Skizzen vom Ablauf des einen großen Auftritts. Mit dem malaiischen Amok – die wie im Rausch begangene Tat – hat das nur bedingt zu tun. Zu zielgerichtet ist die Wut: Schüler töten Lehrer wie in Erfurt. Söhne bringen ihre Eltern um wie in Toulouse. Sich betrogen Fühlende erschießen Lokalpolitiker wie in Zug. Ein neuer Begriff wurde geprägt: Smash – Sudden Mass Assault Syndrome with Homicide (plötzliches Massenangriffssyndrom mit Tötungsabsicht). Er setzt sich nicht durch. Zu unbequem. Denn solange das Irrationale – Amok – gilt, ist es leicht über medienkulturelle, gesellschaftliche und psychologische Faktoren, die eine Rolle spielen, zu reden. Verantwortung muss offenbar trotzdem nicht übernommen werden. Denn das Irrationale bleibt immer im Bereich der Spekulation. Damit aber auch die Suche nach den Missständen, die das tödliche Ereignis möglich machen. Für das Irrationale braucht keine Rechenschaft übernommen zu werden.
Nach jedem Amoklauf kommen Computerspiele in die Kritik. Alle Amokläufer der letzten Jahre, die jünger waren als 20, seien Fans gewalttätiger Computerspiele gewesen, sagt Christian Pfeiffer, Justizminister in Niedersachsen. Die Computerspielgemeinde protestiert. Der Zusammenhang sei nicht verallgemeinerbar. Tatsache bleibt: Gewaltdarstellungen im Film sind der Mainstream. Schon im Abendprogramm des Fernsehens wird auf spektakuläre Weise gestorben. Tod ist Abstraktion. Jemand bringt jemanden um. Schnitt. Jemand küsst jemanden. Schnitt. Jemand im Auto wird von jemandem im Auto verfolgt. Schnitt. Jemand springt vom Gerüst. Schnitt. Durch die interaktiven Spiele kommt eine neue Qualität dazu. Nun verfolgt und erschießt das Spieler-Ich seine gepixelten Gegner. Wenn er Pech hat, trifft es ihn selbst. Medialer Amok. Die Experten streiten, ob sich das auf die Psyche der Spieler, meist männliche Jugendliche, auswirkt. Als solche Simulationssituationen beim amerikanischen Militär eingesetzt wurden, stieg die Trefferquote von 15 auf fast 100 Prozent.
Verbote wirken nicht, wenn sie nicht durchsetzbar sind. Fantasie ist gefragt. Pfeiffer, der niedersächsische Justizminister, hat Firmen angeschrieben, die mit ihren Werbestrecken im Abendprogramm zwischen den Actionfilmen die Sender finanzieren. Die meisten Firmen waren sich der Zusammenhänge gar nicht bewusst. VW beispielsweise will, so Pfeiffer, nun Werbezeit nur noch kaufen, wenn keine Gewalt verherrlichenden Filme ausgestrahlt werden. Warum muss erst jemand darauf kommen, warum hat VW nicht vorher hingeschaut?
Als Antwort schiebt sich der gesellschaftliche Faktor ins Bild. Mangel an Wertevermittlung, Mangel an Kommunikation, Konsumzwang, Konkurrenz und Zukunftsangst, Macht- und Bedeutungsverlust der Männer in der Gesellschaft sind die Stichworte. Alles käme zusammen im Augenblick des Amoklaufs.
Die Vorstellung von Gut und Böse ist im Medienzeitalter an das Gegensatzpaar fiktiv und real geknüpft. Das ist nicht weiter schlimm, solange verstanden wird, dass getötet im Film andere Konsequenzen hat als getötet im realen Alltag. Solche Medienkompetenz zu vermitteln, steht noch nicht auf den Lehrplänen und auch nicht auf der Agenda der Erziehungsberechtigten, schon gar nicht auf der der Wirtschaft. Andere Verschiebungen im sozialen Leben, deren Konsequenzen noch nicht umfassend benannt sind: Leistung misst sich in Geld, und Bestätigung ist an Erwerbsarbeit gebunden, die nicht ausreichend vorhanden ist. Die Schulen, die in den letzten Jahren immer mehr die Rolle übernehmen mussten, den Kindern auch soziales Verhalten zu vermitteln, sind überfordert. Robert Steinhäuser, der Erfurter Amokläufer, war im Gymnasium auffällig, zu Hause aber allein. „Amok ist die Abwesenheit der anderen. Jedenfalls vorher“, sagt der Psychiater Volker Faust im Dokumentarfilm „Vom Hass zum Horror“ von Harriet Kloss und Markus Thöss.
Der Mangel an ideeller Wertevermittlung wird auch in dem Stück „Bombsong“ von Thea Dorn deutlich, das derzeit im Gorki Theater gespielt wird. Eine junge Frau bekommt von ihren Eltern alles, was sie will. Der Überfluss ist Konzept. Selbst Moral und Zuneigung sind konsumierbar geworden. Nur das, wofür es sich im Leben zu kämpfen lohnt, wird ihr nicht mehr vermittelt. Es ist ja alles da. Sie will die Bombe in ihrem Koffer zünden, weil selbst Vernunft austauschbar ist. Dabei ist sich die junge Frau in der Irrationalität ihrer Handlung genau so bewusst wie der eine Frau verfolgende Amokläufer in Stefan Zweigs Novelle, die vor 90 Jahren geschrieben wurde. Trotzdem gibt es einen signifikanten Unterschied: Er läuft Amok, obwohl er weiß, dass er gegen die Vernunft handelt. Die Protagonistin in „Bombsong“ will Amok laufen, weil sie damit gegen die Vernunft handelt. In den 90 Jahren zwischen Zweig und Dorn wurde Vernunft zur Verhandlungssache. Amok. Zeitgeist? Amokläufer, die überleben, können sich oft nicht daran erinnern, was sie in ihrer Zerstörungswut getan haben, wird gesagt. Hat die individuelle Amnesie womöglich inzwischen kollektive Züge?
Neben den medienkulturellen und gesellschaftlichen Aspekten kommen nach einem Amoklauf ebenfalls die psychologischen Faktoren ins Gespräch. Auf Seiten der Amokläufer wirken Demütigung und Versagen. Das soll für Steinhäuser gegolten haben, aber auch für Marc Lépine, den Amokläufer von Montreal, der 14 Frauen erschoss. Auch für jenen von Wien, von Tours, von Meißen. Konkret litten Gedemütigte unter der verlorenen Kontrolle über andere Menschen und damit über die Lebensumstände. Letztendlich verbirgt sich dahinter das Gefühl, einen Machtverlust zu erleben. Das sei eine Kränkung, die in einer patriarchalen Gesellschaft zutiefst auf Männer wirke. Womit auch zu erklären sei, warum nahezu alle Amokläufer männlich sind, meint der Berliner Psychologe Gerhard Haffner, der mit gewalttätigen Männern arbeitet. Auch die in der Ehre getroffenen Männer mit orientalischem Wertekodex, die auch in Deutschland ihre Ehefrauen, Schwestern, Töchter angreifen, sofern sie sich ihrer Meinung nach nicht angemessen verhalten, sind in diesem Sinne Amokläufer. Eine Entschuldigung ist dies nicht.
Unter dem Gerüst vor der Luisenstraße 40 steht eine herrenlose Reisetasche. Sie ist offen. Ein paar Klamotten sind drin. „Gehört sie dem Mann“, frage ich den Polizisten. „Wir wissen es nicht“, sagt er. Der Mann auf dem Baugerüst war am Ende. Betrogen von der Welt, verlassen von den Menschen. Für ein paar Minuten konnte er Schrecken verbreiten, als er die Metallteile nach unten warf. Und dann?
Palindrome werden Wörter genannt, die vorwärts und rückwärts gelesen einen Sinn ergeben: Amok – Koma. So schließt sich der Kreis.
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